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Rituale

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Vor langer, langer Zeit machte ich mich einmal in einer Glosse über den außer Rand und Band geratenen Weihnachtsrummel lustig. Angesichts all der Dekoration, all der Leuchten und Girlanden, so schrieb ich, komme mir unweigerlich der gute alte Travnicek in den Sinn, der sich bei solcher Lichterpracht nur eines wünschte:

„An Kurzschluss.“

Inzwischen hat sich der Wahnsinn noch gesteigert, indem an jedem Haus – na ja, an fast jedem Haus – schon LED-Lichterln blinken, womöglich gar Rentiere in die Gegend glotzen. Der Aufwand verhält sich umgekehrt proportional zur Ehrlichkeit der Gefühle.

Heuer kriegen wir vom Weihnachtsrummel nicht gar so viel mit – meine Wenigkeit praktisch überhaupt nichts –, manche sind froh, Weihnachten überhaupt noch erlebt zu haben, und der Wunsch „ein gesundes Neues Jahr“ hat sinistre Bedeutung gewonnen. Da bleibt einem der Spott im Halse stecken.

Von „neu besinnen“ möchte ich schon gar nicht reden. Das ist auch so eine Floskel. Aber vielleicht erinnern wir uns an etwas anderes: ans Ritual. Das haben wir als Kinder doch so geliebt an dem Fest: die knisternde Spannung, wenn das Wohnzimmer verschlossen war, weil dort das Christkind werkte. Am Vierundzwanzigsten wurden wir nachmittags zur Großmutter expediert, um daheim nicht im Weg zu sein, und auch dies gehörte zum Weihnachtsritual. Später zum Friedhof; wir besuchten das Grab des Großvaters. Ich erinnere mich an einen solchen Besuch: Es hatte große Mengen geschneit, wir mussten knietief zum Grab waten; es war bereits finster, aber auf den Gräbern flackerten Kerzen und drunten, weit entfernt, funkelten die Lichter von Innsbruck (das spielte sich am Mühlauer Friedhof ab, einem Kleinod für sich).

Danach heim, warten bis… ja, bis das Glöckchen klingelte, und dann ging die Tür auf, der Christbaum in seiner vollen Pracht, die Krippe, die Geschenke. Aber auf die durften wir uns nicht stürzen, keineswegs! Zuerst wurde gesungen: Stille Nacht, Heilige Nacht. Wir sangen tatsächlich selbst, mehr schlecht als recht, aber das tat der Sache keinen Abbruch. Es gehörte einfach dazu, und das Lied – nun, es hat seine ganz eigene Magie, die immer berührt, ganz egal, wie alt man ist oder wo man’s hört. Mein fröhlichstes Hörerlebnis fand am Greenmarket Square in Kapstadt statt, ich saß im kurzärmeligen Hemd vor einem Café im Freien und nippte an meinem Cola, da intonierte es ein Straßenmusikant auf seiner Trompete anlässlich des Ersten Adventsonntags.

Nach dem Singen kam die eigentliche Bescherung – auch wohlgesittet, unsere kleine Schwester suchte die Päckchen aus und verteilte sie, eines nach dem anderen und schön ausgewogen. Wir schauten beim Auspacken zu und freuten uns mit den Beschenkten.

Wenn die Bescherung vorbei war, gab’s das Essen. Geselchte Zunge mit Kartoffelpüree und grünen Erbsen, so wie immer. Und danach waren wir alle so satt, da verkroch sich jeder oder jede in ein Eck und begann zu lesen, denn Bücher machten die Mehrheit der Geschenke aus. Bis es Zeit wurde für die Mette.

Natürlich ging’s mit den Ritualen weiter, ganz ausgeprägt zu Silvester. Da spielten wir leidenschaftlich. Zu Dreikönig, dem letzten Tag der Ferien, wurde der Christbaum abgebrannt, wie wir sagten, das heißt wir saßen alle zusammen im Esszimmer und ließen die Kerzen herunterbrennen, bis die letzte verlöscht war (unter entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen, versteht sich). Am nächsten Tag wieder in die Schule, mit dem Bewusstsein, wunderschöne Ferien verbracht zu haben.

Und warum?

Wegen der Rituale. Ich glaube, wir haben ein bisschen vergessen, wie wichtig die sind, gerade für Familien. Nicht nur zu heiligen Zeiten, wie’s so schön heißt, sondern jeden Tag: Einmal im Tag kommt eine ordentliche Familie zusammen, beim Essen, meistens wird das heutzutage am späten Nachmittag sein, um Familienangelegenheiten zu besprechen, Neuigkeiten auszutauschen, Leute auszurichten („analysieren“, haben wir das genannt) – und um miteinander zu lachen. Bei uns fand das Abendessen um halb sieben statt, wer nicht anwesend sein konnte, musste das der Mutter rechtzeitig mitteilen. Das war eine eiserne Regel.

Na ja, und in diesem Sinne darf ich Ihnen gelungene Feiertage wünschen. Die bräuchten nicht viel Geld und keine blinkenden LED-Lichterln. Sie würden sogar dem Sarkasmus eines Travnicek widerstehen: Gott sei Dank, so wird ihm vorgehalten, gibt’s noch Leut’, die ans Christkind glauben.

„Ja“, brummt er, „die Geschäftsleut.“

Bronner / Qualtinger, „Travniceks Weihnachts-Einkäufe“

H. W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950. Lebte und arbeitete in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. War Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für die Gegenwart. Mehrere Bücher. Mehr Infos auf der persönlichen Website.

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