Letzte Woche wollte ich den akuten Fall einer Kindesabschiebung mangels nachprüfbarer Informationen nicht kommentieren. Diesmal aber muss ich es tun, denn die nun von Abschiebung betroffene Familie Kaya kenne ich persönlich. Und wieder übermannt alle ihre Freunde und Helfer hilfloser Zorn. Denn so wie mir Herr und Frau Kaya ehemals in äußerst mangelhaftem Deutsch ihre Fluchtgründe geschildert haben, klangen sie für mich glaubwürdig und nachvollziehbar und ich war mir sicher, sie müssten nach dem Gesetz Asyl zuerkannt bekommen, umso mehr, als es in einem Land wie der Türkei, zu dem es hierzulande direkten Informationszugang gibt, leicht sein müsste, einen objektiven Nachweis für ihre Schilderungen zu erbringen. Die Justiz hat das offenbar anders gesehen. So zeigt auch dieser Fall erneut wieder sämtliche rechtliche Dilemmas bei Asylverfahren. Und wieder ist ein Kind tragisch mitbetroffen.
Es handelt sich diesmal um eine kurdische Familie aus der Türkei. Sie haben sich selbst und ihren Fall der Öffentlichkeit dargestellt, nachzulesen hier. So stehen wir ehemalige Kontaktpersonen und Helfer einmal nicht vor dem
Dilemma Nr 1: Asylverfahren finden nämlich im geschlossenen Kämmerchen statt und dies zu Recht. Denn jeder Fall, der mit Namensnennung und Bild in den Medien landet, kann für den Betroffenen oder seine in der Heimat zurückgebliebene Familie zur Lebensbedrohung werden. Diese Nicht-Öffentlichkeit der Asylverfahren führt aber dazu, dass im Gegensatz zum Strafverfahren, die öffentliche Meinung dazu auf Mutmaßungen angewiesen ist. Überdies können logischerweise kaum Zeugen auftreten. Auch kann hier die Verteidigung kaum je direkte Beweise für die Fluchtgründe vorbringen, es sei denn, es wäre ein Zeitungsartikel irgendwo darüber geschrieben worden und man hätte diesen Artikel in weiß Gott welcher Sprache zufällig entdeckt. Nicht einmal die Betreuer des Asylwerbers dürfen im Verfahren persönlich auftreten und wenigstens ihre Beweise für seine Integrationsbemühungen vorbringen. All dies kann zwar schriftlich eingebracht werden, aber Papier ist geduldig. Ich würde ja auch nicht alles glauben, was mir irgendwer auf einem Papierl bestätigt. Nicht umsonst ist die direkte Vernehmung von Zeugen ein wesentlicher Bestandteil aller anderen Gerichtsverfahren.
Dilemma Nr.2: Begeben wir uns einmal in die Situation eines Flüchtenden: Die wenigsten können ihre Flucht lange im Voraus planen und sich die erforderlichen Informationen beschaffen. Der im Asylgesetz definierte Flüchtende flieht zeitnah aus einer direkten, persönlichen Verfolgungssituation und lässt daher planlos alles und alle zurück, beschafft sich höchstens noch schnell ein Handy, rafft das Allernötigste zusammen (vergisst dabei zum Beispiel auf Winterkleidung für fremde Klimazonen) – fotografiert, wenn er klug ist, seine wichtigsten Dokumente mit dem Handy, macht zu Bargeld, was nur irgend möglich ist, lässt sich eine Schlepperorganisation von irgendwem empfehlen und macht sich auf den Weg in ein Land, von dem er meist nur einen wohlklingenden Namen kennt und wo ihm die geschäftstüchtigen Schlepper das Blaue vom Himmel versprechen. Er liefert sich diesen seinen einzigen Helfern notgedrungen auf Gedeih und Verderb aus. Kommt er dann zum Beispiel in Österreich an und glaubt, er sei schon im — vom Schlepper versprochenen — Gelobten Land Deutschland, sagt er „Asyl“, das einzige fremdsprachige Wort, das ihm die Schlepper beigebracht haben. Nun kommt der/die Geflüchtete auf eine Polizeiwache, wo die Erstvernehmung stattfindet und er/sie versteht kein Wort, was passiert. Also wird, wenn möglich, ein Dolmetscher beigezogen, der nur leider oft die Sprache oder den Dialekt des Geflüchteten nicht wirklich beherrscht. Hier passierten besonders in der großen Flüchtlingswelle 2015 oft schon die ersten folgenschweren Fehler, denn …
Dilemma Nr 3: … nachdem der/die Geflüchtete anschließend monate- und jahrelang auf eine erste Verhandlung am BFA (Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen) gewartet hat, muss das, was bei der polizeilichen Erstvernehmung protokolliert wurde, spätestens jetzt richtiggestellt werden, wobei allfällige Widersprüche in der Darstellung von den Beamten gerne schon einmal negativ vermerkt werden. Kurzum, und das ist
Dilemma Nr 4: Einem Geflüchteten wird a priori unterstellt, dass er/sie lügt und sich Asyl erschleichen will. Natürlich gibt es auch die gut vorbereiteten Schlaumeier, die genau wissen, was sie sagen müssen, um unter die Asylgesetzgebung zu fallen. Dummerweise wissen genau die echten Flüchtlinge das meist nicht. Denn die hatten keine Zeit und keine Helfer, die sie für unser Asylwesen eingeschult haben. Dummerweise auch haben die Beamten beim BFA das Wort Übersetzungsfehler inzwischen so oft gehört, dass sie auch das nicht mehr glauben, obwohl in der Akutsituation 2015/16 nachweislich Übersetzer für Farsi oder Arabisch an den Grenzen tätig waren, die kaum der Sprache mächtig waren, und dadurch viel Falsches protokolliert wurde. Doch wie gesagt: Die Beamten gehen offenbar mehrheitlich davon aus: Der Angeklagte lügt, weil er klarerweise hierbleiben will. Ersteres stimmt nicht und es handelt sich auch bei Asylwerbern niemals um Angeklagte, obwohl das oft vergessen wird. Und zweiteres stimmt immer, denn die Menschen wollen einfach nur irgendwo ankommen. Das prinzipielle Misstrauen gegenüber den Asylwerbern pflanzt sich dann fort im …
Dilemma Nr 5: … dem Neuerungsverbot. Hat ein Asylwerber nämlich einmal seine Geschichte vor den Beamten des BFA geschildert und kommt es zum Verfahren vor dem Richter, darf er keine weiteren, vielleicht ursprünglich in der Aufregung vergessenen Punkte mehr einbringen und etwas an seiner Erstaussage verändern. Was liegt, das pickt. Man kann höchstens noch nachrecherchierte Zeitungsartikel zum bereits Geschilderten vorlegen, was ein guter Rechtsbeistand, der sich für wenig Honorar intensiv auf das Verfahren einstellt, eventuell auch tun würde, doch das geschieht selten, weil es …
Dilemma Nr 6: … zu wenige solche Rechtsanwälte gibt und diese heillos überlastet sind. In jedem Strafprozess hat der Angeklagte auch für das grausligste Verbrechen noch ein Anrecht auf eine gute Verteidigung und die Beweislast liegt beim Kläger. Im Asylverfahren ist der hilflose Geflüchtete schlimmer dran als jeder Angeklagte. Er steht unter strikter Wahrheitspflicht, sodass schon die kleinste Ungereimtheit oder etwas zu vergessen oder konfus und widersprüchlich zu schildern zu einem negativen Asylbescheid führen kann. Da kann sich der Richter noch so sehr um eine Klärung bemühen, wenn der Rechtsbeistand als „Verteidiger“ in seiner Kenntnis der Rechtslage hier nichts beibringt, ist der kaum sprachmächtige und völlig rechtsunkundige Asylwerber hilflos.
Dilemma Nr 7: Ist in erster Instanz ein negativer Bescheid erfolgt, versteht der Geflüchtete natürlich nicht, wie das passieren konnte, warum ihm niemand glaubt. Die Bescheide sind lang und sprachlich selbst für uns Deutschsprachige oft kaum verständlich und manchmal ebenso wenig nachvollziehbar. Natürlich wird der Asylwerber schon aus purem Überlebenswillen Einspruch erheben, und das Verfahren geht, oft nach wieder monate- oder jahrelanger Wartezeit, in die nächste Runde, die in 50 Prozent der Fälle genau gleich wie die vorherige abläuft.
Dilemma Nr 8: Und weil das alles so kompliziert und langwierig ist, erhält der Asylwerber nach vielen Jahren und zwei negativen Bescheiden auf einmal einen Abschiebungsbescheid und taucht, wenn es ihm möglich ist, nun schleunigst unter, bevor man ihn abholen kommt. Und dann beginnt das Ganze, meist in einem anderen EU-Land, von Neuem.
Um nun auf die Familie Kaya zurückzukommen: Ich habe ihnen geglaubt, was sie mir über sich erzählten: dass sie mit dem Tod bedroht und praktisch in die Flucht getrieben wurden. Und jedes Kind weiß, dass Alewiten und Kurden und insbesondere politisch nicht auf Erdogan-Linie liegende alewitische Kurden in der Türkei verfolgt werden. Die Gefängnisse sind voll. Ich habe ihnen geglaubt, dass sie ihre Gastronomiebetriebe, mehrere Restaurants oder Bars, was immer, Haus und 2 Autos zurücklassen mussten. Ihre professionellen Kochkünste haben sie im Flüchtlingsheim mehrfach unter Beweis gestellt und von den Autos hat mir Tosun damals sogar die Marken genannt. Ich glaubte ihnen, dass sie die letzten in der Familie waren, die noch ausgeharrt hatten, alle anderen hatten schon früher in Österreich und Deutschland Zuflucht gesucht. Ich habe die Besuche ihrer hiesigen Verwandten und deren Autokennzeichen gesehen. Ich habe gesehen, wie psychisch angeschlagen Meryem war, sodass sie oft im Deutschkurs keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ich habe mitbekommen, wie sehr sich die Buben in der Schule angestrengt haben, um hier eine Zukunft zu haben. Und eine Kollegin war beim Berufungsverfahren als Beobachterin anwesend und hat mitangesehen, wie desinteressiert ihr Rechtsbeistand sie vertreten hat und keinerlei Anstrengung unternahm, dem Richter, der sich sichtlich bemühte, die Fluchtgründe plausibel darzulegen, was Tosun und den anderen Familienmitgliedern selbst sprachlich nicht gelang. Sie hat auch erfahren, dass es nicht einmal eine Vorbesprechung der Familie mit diesem Anwalt gegeben hatte. Und nun ist alles verloren. Sie werden wohl mittellos in die Türkei zurückverfrachtet werden, wo sie, egal in welcher Gegend, immer als Alewiten plus Kurden plus Erdogan-Gegner Verfolgte sein werden. Die innerstaatliche Fluchtperspektive existiert für solche Menschen in der Türkei schon längst nicht mehr.
Und dabei wäre es so einfach gewesen: die Kayas hätten Arbeit und Familienbeziehungen und Wohnung hier gehabt. Sie hatten bloß das Pech, zu lange mit ihrer Flucht gewartet zu haben. Wären sie, wie die anderen, ein paar Jahre früher nach Österreich gekommen, hätte man sie problemlos hierbehalten. Es ist zum Heulen. Auf Wiedersehen, Tosun, Meryem, Yilmaz und Yigit!