Die gestrigen Bilder vor dem US-Kapitol waren beängstigend, verstörend und hochgradig irritierend. Jeder demokratisch denkend Mensch muss diese Ereignisse zwangsläufig als äußerts düsteren Teil der amerikanischen Geschichte interpretieren. Verständnis für eine solche antidemokratische Aktion eines entfesselten Mobs darf es nicht geben.
Dass Trump zündelte und Verantwortung für das was geschehen ist trägt, ist unstrittig. Doch das kreisende insistieren des ORF auf dieser Rolle wirkte so, als ob man um eine denkerische Leerstelle herumschleichen würde, die man nicht benennen darf.
Diese Leerstelle ist aber leicht benannt. Trump mag den „Mob“, wie ihn Biden genannt hat, entfesselt, angestachelt und gebündelt haben, allein hervorgebracht hat er ihn aber nicht. Schon seine damalige Wahl zeigte die diesbezügliche Gespaltenheit der USA. Der intellektuell schwergewichtigere und gesellschaftlich angesehenere Teil der USA ist links-liberal, pro-black und hat die kulturelle Vielfalt als Ziel.
Der andere Teil der us-amerikanischen Gesellschaft wiederum bangt um seine Identität als weiße Mehrheitsgesellschaft. Aber nicht nur. Trump repräsentiert als Geschäftsmann, so mies er als dieser auch sein mag, ein Unternehmertun, das stark an den amerikanischen Traum glaubt und Regulierungen oder Einschränkungen durch den Staat ablehnt.
Trump-Wähler sind somit nur zum Teil durch den wütenden Mob repräsentiert, der gestern das Kapitol stürmte. Dieser repräsentiert also nicht nur nicht die USA als Gesamtes, sondern auch nicht die gesamte Wählerschaft des noch amtierenden und bald scheidenden Präsidenten.
Indem jetzt das „wahre Amerika“ beschworen wird und pausenlos Trump die alleinige Schuld an den Ereignissen zugeschoben wird, schafft man Ausschlüsse, die die im Moment explosive Situation noch weiter anstacheln könnten. Die tendenzielle Pauschalisierung der Trump-Anhängerschaft als tatsächlicher oder symbolischer Teil des Mobs am Kapitol generiert eine neue Wut, die daraus resultiert, vom intellektuellen Establishment weder wahrgenommen und schon gar nicht ernstgenommen zu werden.
Die Frage wird jetzt sein, ob Joe Biden diesen Teil der amerikanischen Gesellschaft ansprechen und wahrnehmen kann, ohne blinde Flecken, ohne ideologische Scheuklappen. Er wird sich aber zeitgleich präzise von einem entfesselten Mob distanzieren müssen, ohne Pauschalisierungen und Vereinfachungen. Damit dieser in die Bedeutungslosigkeit zurücksinken kann, während berechtigte Ängste von Trump-Wählern gehört werden und eine Kanalisierung und sachliche Repräsentation finden.