Lernsieg nennt sich anscheinend jene App, mittels welcher Schüler neuerdings – oder doch zumindest bald – ihre Lehrer und ihre Schule im Internet bewerten können. Es ist auch von der Lehrer-App die Rede. Was eine App ist, das möge man mich bitte schön nicht fragen.
Die Bewertung auf dieser App erfolgt natürlich anonym. Der Widerstand der Lehrergewerkschaft scheint nichts gefruchtet zu haben. Wozu anzumerken ist, dass rechtliche Einsprüche, womöglich gar Verbote in so einem Fall überhaupt nichts nützen. Irgendwer wird irgendwo immer so eine App installieren können. Da ist’s vielleicht besser, die Betreiber sind bekannt und in Österreich ansässig.
Ein paar Dinge, so denke ich, könnten aber doch bedacht werden – zusätzlich zu dem, was in den Medien bisher diskutiert wurde. Zunächst: Wenn sich Lehrer gegen eine solche Art der Beurteilung wehren, dann wird ihnen entgegengehalten, dass sie selbst ja ununterbrochen beurteilen. Warum sollten sie selbst ausgenommen sein?
Gute Frage, ja. Übersehen wird dabei, dass die Lehrer-App – so wie übrigens die rituelle Evaluierung an unseren Bildungseinrichtungen – ganz anders funktioniert als die Notengebung durch Lehrer. Erstens sind Lehrkräfte nicht anonym. Zweitens muss ihre Beurteilung nach sehr genauen, man könnte fast sagen: minutiösen Regeln erfolgen. Die sind in einer Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen festgelegt. Wenn jemand glaubt, eine Lehrkraft habe sich nicht an die Regeln gehalten, kann er oder sie sich dagegen wehren – man weiß ja, wer da am Werke war.
Das wäre demzufolge das Mindeste, was man von der so genannten Lehrer-App fordern dürfte: Wenn Lehrer schon namentlich an den Pranger gestellt werden, dann kann man von den Beurteilern doch wohl entsprechende Offenheit verlangen, oder?
Das gälte im Übrigen auch für jene Evaluierungen, welche an unseren Schulen inzwischen gang und gäbe sind (wenn nicht sogar vorgeschrieben). Man wird mir als ehemaligem, lang gedientem Lehrer vielleicht verzeihen, wenn ich nicht gar so viel davon halte. Das liegt an den Erfahrungen, die ich gemacht habe. Und zwar, wohlgemerkt, mit vorwiegend guten bis sehr guten Beurteilungen. Das kam so: Im Zuge eines Lehrauftrages an einer Fachhochschule musste ich jedes Semester solche Evaluierungen über mich ergehen lassen. Zum Großteil fielen sie, wie gesagt, gut bis sehr gut aus, manchmal gab’s aber auch vernichtende. Wie konnte so was geschehen? Nun, die Antwort erwies sich als simpel: Da hatte es mit dieser Gruppe nicht funktioniert, die Stimmung war schlecht, missmutig vielleicht gar. So was kommt vor. Man darf ja nie vergessen, dass man es im realen Unterricht (also nicht in pädagogischen Idealvorstellungen) stets mit Gruppen, Klassen oder Jahrgängen zu tun hat. Die entwickeln aber ihre jeweils eigene Identität. Das ist etwas, was sich Außenstehende nur schwer vorstellen können und was Anfänger lernen müssen – meist mittels bitterer Erfahrung.
Also: Wenn die Stimmung in und mit einer Gruppe gut war, dann waren die Beurteilungen gut. Und wenn sie schlecht war – man kann sich’s vorstellen. Wohlgemerkt: Ich spreche hier von fortgeschrittenen Studenten, sechstes oder siebtes Semester. Nach einem oder einem halben Jahr würden sie als graduierte Akademiker draußen in der Realität über entsprechende Kompetenzen verfügen, über Verantwortung. Dessen ungeachtet waren sie nicht in der Lage, eine objektive Bewertung ihrer Lehrkraft vorzunehmen.
Solche Erfahrungen machten im Übrigen alle Kollegen, nicht nur ich. Weiblichen Lehrkräften gegenüber konnten die anonymen Beurteiler geradezu ausfällig werden. Aber selbst wenn nicht: Für mich war’s ernüchternd zu sehen, wie sogar die Beurteilung meiner fachlichen Kompetenz abhing vom Gefühl der Studierenden, von der Stimmung im Unterricht. Wobei ganz allgemein festgestellt werden konnte: Je weniger solche Studierenden im fraglichen Fach wussten oder konnten, desto schlechter schätzten sie die fachlichen Kenntnisse bzw. Fähigkeiten des Vortragenden ein – selbst dann, wenn sie selbst zu so einem Urteil gar nicht in der Lage waren. Dann erst recht.
Auch dies vermochten die Damen und Herren Diplomkandidaten nicht zu durchschauen. Was wir, die Lehrkräfte, taten, das war hingegen ganz simpel: playing for the galleries, wie man im Englischen sagt, wir passten uns also an, waren den Studenten zu Gefallen. Gerade so, dass wir’s mit unserer Berufsauffassung noch vereinbaren konnten, die Evaluierung am Ende des Semesters aber trotzdem passte. Die war durch und durch vorhersehbar: Input–Output. Steuerbar.
Eigentlich eine deprimierende Erkenntnis, wenn man’s einmal bei Lichte betrachtet. Denn die wichtigste Aufgabe eines Lehrers besteht ja nicht darin, zu gefallen, Beifall zu erheischen. Im Gegenteil: Eine gute Lehrkraft wird sich unter Umständen unbeliebt machen müssen. Sonst ist’s mit dem Lehren nicht allzu weit her.
Ändern wird das alles freilich nichts. Die Evaluierung ist so was wie eine sakrale Handlung geworden, wer was dagegen sagt, macht sich der Blasphemie schuldig. Und ihre Ergebnisse sind genau so sakrosankt.
Aber wenn dem so ist – warum nicht auch vice versa? Warum gehen Lehrer nicht her und konstruieren eine App, mittels welcher sie selbst – anonym, versteht sich – Schüler evaluieren können, die allerdings beim Namen genannt würden. Eine Schüler-App. Da wär’s dann endlich einmal möglich, das zu sagen, was man als Lehrkraft eigentlich immer schon sagen wollte. Das geht im Zuge der regulären Beurteilung nämlich nicht. Da könnte man endlich einmal offen aussprechen, um was für ein faules, verlogenes Individuum es sich im gegebenen Fall handelt. Oder um was für indolentes, aufsässiges Exemplar. Derlei Erscheinungsformen treten in der Schülerpopulation ab einem gewissen Alter ja mit schöner Regelmäßigkeit auf.
Und das steht dann im Netz, so wie die Beurteilung des Lehrers durch die Schüler, für jeden einsehbar, für immer. Das fände ich ausnahmsweise einmal fair.