Über Hans Roslings „Factfulness“
Ein sehr beachtens- und empfehlenswertes Buch ist mir da über den Weg gelaufen. Es fängt damit an, daß ein paar einfache Fragen gestellt und vom Leser beantwortet werden sollen, zum Beispiel: Wie viele Mädchen absolvieren heute eine fünfjährige Grundschulbildung in den Ländern mit niedrigem Einkommen? 20, 40 oder 60 %? Oder: Heute leben 2 Milliarden Kinder im Alter von 0 bis 15 Jahren auf der Welt. Wie viele werden es laut Angaben der Vereinten Nationen im Jahr 2100 sein? 4 Milliarden, 5 Milliarden, 2 Milliarden – also gleich viele wie heute. Oder: Weltweit haben 30jährige Männer durchschnittlich 10 Jahre lang eine Schule besucht. Wie viele Jahre haben gleichaltrige Frauen die Schule besucht? 9 Jahre, 6 Jahre oder 3 Jahre? Ebenso wie bei diesen drei Fragen ist bei den anderen 9 in dem Test die Antwort fast immer die Nummer 3. Man stellt mit Erstaunen fest, daß man in der Regel falsch geraten, nämlich grob gesprochen den Zustand der Welt wesentlich schlechter eingeschätzt hat, als er tatsächlich ist. Einen Trost haben dabei die Verfasser parat: man befindet sich mit dieser Fehleinschätzung in bester Gesellschaft. Insbesondere Menschen mit hohem Bildungsgrad schneiden dabei schlecht ab, einige der schlechtesten Ergebnisse stammen von einer Gruppe von Nobelpreisträgern, und auch bei einem erlesenen und gut informierten Publikum am Weltwirtschaftsgipfel in Davos ging es nicht anders aus. Selbst nach dem Zufallprinzip, durch eine Gruppe von Schimpansen im Zoo versinnbildlicht, die anstelle einer Antwort verschieden numerierte Bananen wählen dürfen, würde ein besseres Ergebnis erzielt.
Dieses Buch überbringt uns eine einfache und für jeden nicht völlig verwehten Zeitgenossen gute, erleichternde, ja geradezu begeisternde Botschaft: Es geht der ganzen Welt heute viel, viel besser, als es ihr je gegangen ist.
Wenn man dem üblichen aufgeklärten Zeitgenossen mit dieser Botschaft kommt, wird sie zwar meist gnädig und etwas ungeduldig zur Kenntnis genommen, dann aber kommt umgehend das große Konter: das mag ja alles seine Richtigkeit haben, aber – die Bevölkerungsexplosion! Dieses lebenslang liebgewonnene Dogma will der Aufgeklärte nicht so ohne weiteres fahren lassen, zumal es mit einem anderen fest verknüpft ist: daß die Schuld daran, wie an den meisten anderen Fehlern unserer Welt, die katholische Kirche und insbesondere deren Oberhaupt trägt. „Weil er gegen die Verhütung ist!“ ruft der Aufgeklärte dann ganz außer sich. Aber selbst nach der in dieser Beziehung sehr vorsichtigen UN-Statistik gibt es schon heute nicht mehr Neugeborene als vor kurzem, und es werden von nun an auch nicht mehr mehr, sondern weniger. Und die christliche Frau von heute bringt im Schnitt 2,7 Kinder zur Welt. Man kann also davon ausgehen, daß die Autorität des Papstes auf diesem Gebiet keine sehr große ist. Die einzige wirklich feststellbare Ursache für anhaltenden Kinderreichtum ist die Armut, und diese ist zum großen Glück weltweit auf breiter Front im Rückzug begriffen. Die Weltbevölkerung wächst nur noch aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung eine zeitlang weiter, und in den reichen Ländern hat die rasante Abnahme angefangen. Japans Wirtschaft, zum Beispiel, kämpft schon mit der sinkenden Bevölkerungszahl.
Die Grundlage für dies und all die vielen anderen interessanten Dinge in „Factfulness“ bilden lauter offizielle und frei zugängliche Statistiken, und selbst wenn alle diese Statistiken irgendwo fehlerhaft wären, so ändert das nichts Grundsätzliches am Ergebnis. Viele interessante Einzelheiten, zumal aus Roslings ursprünglichem Fachgebiet, der Medizin, erfährt man in der Folge ausführlicher. Dort zeigt sich allerdings auch eine erkenntnistheoretische Schwäche, die eine der Medizin und darüberhinaus eine durchaus menschliche Schwäche ist. Am Kampf gegen Ebola bzw. der Einhegung dieser Epidemie hat Rosling selber in Westafrika mitgearbeitet und meint an ihr zeigen zu können, wie mörderisch die Sache sich entwickelt hätte, hätten nicht er und seine Mitstreiter in den kritischen Monaten rasch und entschieden und vor allem richtig reagiert. Das mag durchaus sein. Doch man fragt sich, ob es überhaupt menschenmöglich war, in einer so schwer überschaubaren Welt wie der westafrikanischen etwas so aggressiv voranschreitendes wie die Ebola-Epidemie einzuhegen, wenn nicht eine gewisse Ausbreitungsschwäche von vornherein der Krankheit innewohnend war. Auf Deutsch, ob es nicht die menschliche Selbstüberschätzung ist, die hier zu uns spricht und die sich gern zeigt, wenn nicht gerade ihr Gegenteil das Kommando übernommen hat.
Auch an einer anderen Stelle im Buch begegnet uns etwas, das durchaus verständlich ist, wovon der Arzt in aller Regel aber nicht spricht, der sich quasi als objektiv erkennende und handelnde Instanz sieht und darstellt: der nackte Schrecken, den eine neue Krankheit verbreitet, solange sie unbekannt und bis sie eben keine neue Krankheit mehr ist. Das erleben und erleiden wir zur Zeit mit unserer Seuche; die Mehrheit der Ärzte und in ihrem Kielwasser Regierende und Medien erstarren in Selbstunterschätzung und vermutlicher Krankheits-Überschätzung, während die Kritiker, Querulanten, Leugner (wie Sie gerne möchten) in der anderen Sorte selbstgewisser Quasi-Objektivität verharren, die „nur“ die nicht übermäßig gefährliche Variante der alljährlichen Grippe sieht und sich den Schrecken der anderen nicht vorstellen kann. Dieser Schrecken wurzelt im kollektiven Gedächtnis der Menschen, die seit allen Zeiten von unbekannten Krankheiten jedweder Art bedroht worden und historisch auch in schrecklichem Ausmaß daran gestorben sind.
Ein anderes unter den von Rosling angesprochenen „großen Problemen“ der Menschheit ist, erwartbar und doch fast kurioserweise, der gute alte menschengemachte Klimawandel. Hier nennt der Autor uns als Schnipsel von Evidenz die schwindende Eisbedeckung der Arktis und beläßt es ansonst bei der verräterischen Formel „es besteht kein Zweifel“, die uns in aller Regel mitteilt, daß die faktenbezogene Unsicherheit übergroße Festigkeit in der Formulierung nötig macht. Würde man mit einem Minimum wissenschaftlichen Denkens an die Sache herangehen, müßte man wohl, um bei den Polkappen zu bleiben, nach der Arktis kurz die Antarktis betrachten und vergleichend feststellen, daß dort von Schwinden keine Rede ist. An sich hat Rosling das gute Recht und kann ja auch gar nicht anders, als sich auf ihm fremden Fachgebieten auf das Urteil und die Ergebnisse der zuständigen Spezialisten zu verlassen. Niemand kann im Grunde anders verfahren. Nur könnten wir andererseits aus der Wissenschaftsgeschichte inzwischen wissen, daß mit Regelmäßigkeit neue Erkenntnis zunächst die allergrößten Schwierigkeiten hat, sich gegen die etablierte Lehrmeinung durchzusetzen. Gerade die Geschichte der Medizin bietet hiefür Beispiele in Fülle, und es ist erkenntnistheoretisch vollkommen unwahrscheinlich, daß wir ausgerechnet jetzt, 2020, den Punkt erreicht haben könnten, wo „the Science“, wie sich das nach Pippi Langstrumpf berühmteste Mädchen aus Schweden ausdrückt, „einfach so“ und ohne Zweifel recht haben könnte. „The Science“ gibt es nicht, sondern nur Meinungen von Wissenschaftlern, die nicht nur von anderen Wissenschaftlern beurteilt und überprüft werden müssen, sondern bis zu einem gewissen Grad ihre Gültigkeit auch dem gewöhnlichen Sterblichen und seinem gewöhnlichen Sterblichenverstand begreiflich gemacht werden müssen. An der Sache ändern auch die sagenumwobenen „97 Prozent“ der Forscher nichts, die angeblich einer Meinung sind. Oder nach einem hübschen, griffigen Satz: „Wissenschaft ist immer der aktuelle Stand des Irrtums.“
Was die, sagen wir einmal, etwas schwächliche wissenschaftliche Basis der Theorie vom Klimawandel anlangt, sei hier auf die Internetseite des „Europäischen Instituts für Klima und Energie (EIKE)“ verwiesen, und daselbst auf den dreiteiligen Aufsatz von Werner Furrer, „Klima und Scheinwissenschaft“ verwiesen.
Hans Rosling, Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Mit Anna Rosling Rönnlund und Ola Rosling, übers. von Hans Freundl, Hans-Peter Remmler und Albrecht Schreiber. Ullstein Verlag, Berlin 2018, 393 S.