In loser Folge stellt das Alpenfeuilleton Ereignisse, Schicksale oder Gegenstände vor, die das Zauberwort „Alpen“ genetisch in sich tragen.
Wer im Auge des Hurrikans sitzt, wundert sich meist, was die Wetterfüchse rundherum für Krawall machen wegen des bisschen Wind, der da vor der Haustüre über den Bildschirm der Videoüberwachung flattert.
Die Alpen sind so gesehen nichts anderes als geologischer Wind, der sich über dem Kontinent verfestigt hat, und Innsbruck müsste eigentlich INNS’AUGE heißen, weil es das Zentrum dieses Gesteinskrawalls ist.
Das Bild der Einheimischen ist wieder einmal ein anderes als das der Auswärtigen, wenn es um die Alpen geht. Während sie die einen simpel als Beschreibung des Mittelpunkts der Erde sehen, empfinden sie die anderen als das Paradies, in das man von der Peripherie her schmachtend hineinblickt.
Beide Sichtweisen sind sich allerdings einig: Die Alpen sind das, was überflüssig ist.
So ein Gebilde aus Selbstüberschätzung, Sehnsucht und Gespür für Luxus ist jedoch der ideale Nährboden für höchste kulturelle Leistungen.
Im Prinzip genügt es, das Wort Alpen einem belanglosen Begriff hinzuzufügen, und schon entsteht ein Weltbegriff, der kaum in den Archiven Platz hat. Am Beispiel dieses wunderbaren Klangwortes „Alpenbrezel“ lässt sich diese Kulturtechnik bestens beweisen.
Das Alpenbrezel taucht an einem Rentnervormittag in einer Schütte vor der Kassa des M-Preis auf. Als ob das Leben nicht ohnehin schon erfüllt, ausgereift und vollkommen wäre, legt sich dem Rentner (und wahrscheinlich auch normalen Menschen) plötzlich ein Produkt in den Weg, das dazu zwingt, die eigene Lage zu überdenken und vielleicht das Leben zu verändern.
„Snack dich durch die knusprige / Auswahl unserer Alpenbrezn / Laugenbrezeln aus Sauerteig in drei unwiderstehlichen Sorten / Herzhaft guat! / Brezn Stückerl mit Käse / Honey Mustard / Brezn Stückerl mit Honig & Senf / Siass schoarf / Brezn Stückerl mit süßem Chili.“
Die beste Lyrik erblasst gegen diese Texte, die ein kleines Säckchen umhüllen, worin vermutlich winzige Brezen-Brösel in Gestalt einer Impfdose eingeschlossen ist. Wie beim echten Impfen besteht die Kunst bei diesem Snack wohl darin, eine zusätzliche Portion herauszufischen, wofür man aber keine fetten Finger verwenden darf, denn das ganze Alpenbrezerl ist eine fragile Sache, nahe am Fake und der puren Luft.
Als Rentner braucht es seine Zeit, bis die eingeströmten Eindrücke verarbeitet sind. Das führt im Falle der Alpenbrezel dazu, dass sie nicht gekauft werden, sondern dass der Rentner im Netz recherchiert, wie dieses Kulturgut in der Weltlage verankert ist.
Dabei überkommt den Suchenden heftige Euphorie, wie beim Abscannen eines Kunstwerks. Die Firma, die dieses Brezerl zumindest abpackt und vertreibt, sitzt im oberösterreichischen Kronstorf, in der Nähe der Enns, einem Grenzfluss zu Niederösterreich.
Dort scheint auch ein Kreativ-Center beheimatet zu sein, das auf der Homepage zwischendurch scharfe Emoticons installiert, die etwa einen stilisierten Dreigipfelberg, einen Schifahrer kurz vor dem Sturz, und ein Brezel im Stile eines durchgekreuzten Ringerls auf einem Wahlvorschlag zeigen.
Ohne dass man mit der Maus etwas getan hätte, tauchen Sätze auf wie: „Auf der Alm, da gibts koa Sünd / Schon die Geschmacksrichtung süß-scharfe Chili probiert? / Verboten knuschprig, da schnallst ab.“
Offensichtlich hat die Text-Abteilung kurz vorher einen Besuch beim legendären Leberkas-Pepi in Linz absolviert und die dabei aufgetretene Erregung in der Mundhöhle direkt ins Netz gespielt. (Gespien?)
Wer weitere Geschmacksinfos sucht, dem wird angeboten:
#brezel #alpenBrezl #alpen #alps #knusprig #powder #neuschnee #skitourenwinter #skitour #chili #honeymustard #cheese #mpreis
Hoffentlich habe ich mir keinen Virus eingefangen, denkt der Rentner, und bringt die Recherche abrupt zu Ende.
Die Alpen sind und bleiben ein Rätsel, alle Begriffe mit diesem Zauberwort vermögen zwar den Vormittag aufzuhellen, das Dunkle aber bleibt.
Am Alpenbrezel dürfte man sich ab einem gewissen Alter ohnehin das Gebiss ruinieren, womit das Alpenbrezel für das Wohlbefinden angeschlagener Menschen genauso gefährlich ist wie die Alpen pur.
STICHPUNKT 21|34, geschrieben am 06.05. 2021