Für die meisten Berufsgruppen heißt Urlaub, dass sie den Kontakt mit der eigenen Berufsgruppe meiden dürfen.
Die Pensionisten allerdings leiden unter einem besonderen Urlaubsschock. Seit sie aus ihrer Arbeitswelt ausgestiegen sind, treffen sie überall auf der Welt auf Ruheständische. Und die sind tatsächlich überall: am Berg, im Pool und auf der Terrasse.
Für ehemalige Bibliothekare gibt es freilich einen Ausweg aus dem Fluch, ständig „P“s sehen zu müssen. Sie gehen einfach in die Bücherei des Urlaubsortes und sind darin wie überall auf der Lese-Welt mit sich selbst allein. Das Personal ist aufmerksam zurückhaltend, weil man seine Sprache meist nicht versteht.
Es gilt bei diesen Besuchen zu überprüfen, ob die größte Weisheit der Literaturvermittlung immer noch stimmt: „Ein guter Leser tut alles, um nicht lesen zu müssen!“
Diese Weisheit passt wohl auch nach diesem Sommer wieder. Wo man hinkommt, sind die Büchereien in einer Art Sommerbetrieb oder leer.
Angesichts einer solcherart entleerten Bücherei im Bayrischen Wald zieht wieder einmal der ewige Lehrfilm vom Lesen durch den Kopf des Bibliothekars:
Ganz früher waren die Bücher Einzelstücke, die in der Buchhandlung oder Bibliothek in Papier eingewickelt auf Nachfrage vom Personal übergeben wurden.
Es wäre ein Zeichen von Massenware oder Schund gewesen, wenn ein zweites Exemplar im Regal gestanden hätte.
Das Buch „war wer“, und ebenso die Kundschaft.
Diese Welt ist mit der Einführung der Cellophanierung zugrunde gegangen. Die Bücher wurden in Folie eingeschweißt ausgeliefert, eines durfte aufgerissen im Regal liegen, damit man sehen konnte, wie lächerlich so ein Buch ist, wenn es aus der Folie entnommen wird.
Die Aufgabe der Bibliothekarinnen bestand darin, die Verkaufsfolie herunterzureißen und mit der Bücherei-Folie zu bekleben. Dieser Vorgang hatte für manche eine erotische Komponente, ging es doch um das Nackt-Machen und anschließende Verhüllen. Zum Orgasmus dieses sexuell zwielichtigen Tuns führte schließlich das Kappen des Lesebändchens. Das Schnippen der Schere, wenn das Lesebändchen abgeschnitten wurde, ging regelmäßig in Stöhnen über.
Niemand konnte ahnen, dass dieses Sterilisieren des Buches noch einmal einen hohen Stellenwert bekommen würde.
Zwar gab es schon sogenannte Buchwaschmaschinen, in denen das Cover oberflächlich gereinigt werden konnte, wenn eine Kundschaft besonders dreckig gelesen hatte, aber die große Hygiene war damit nicht gemeint.
Den Todesstoß erhielten die Büchereien durch die Hygienevorschriften der Pandemie. Wer will ein Buch ausleihen und gar ins Bett mitnehmen, wenn er dabei eine Maske tragen muss und nicht weiß, wer das Buch vorher gelesen hat? Wer will mit seinem Enkelkind in einem Bilderbuch blättern, in das vielleicht ein anderes Kind schon ein pandemisches Bäuerchen gemacht hat?
Diese Art des Lesens ist vorbei. Sauber sauber, heißt jetzt die Parole für den Herbst. Und damit ist nicht nur die hygienische Aufmachung des Buches für den öffentlichen Gebrauch gemeint, auch der Inhalt muss sich längst wieder der allgemeinen Sauberkeit unterwerfen.
Gefragt sind Bücher, die einen QR-Code am Cover haben, sodass man am Handy nachlesen kann, dass nichts drin steht.
Der gute Leser ist erfreut. Wieder ein Schritt, der ihm das Nichtlesen leichter macht.
STICHPUNKT 21|70, geschrieben am 30.09.2021