Höflichkeit gerät gerade wieder einmal out-of-date, wird als Heuchelei abqualifiziert. Taktlosigkeit ist die neue Musik, die spielt. Aber zeugt Pöbelei im Umkehrschluss von Ehrlichkeit? Oder ist sie bloß satirische Übertreibung? Als solche will man uns die bekanntgewordenen Chats und Redeinhalte von Politikern verkaufen.
Das Wort „Höflichkeit“ leitet sich vom mittelhochdeutschen „Hövescheit“, der Höfisch-heit ab, war also das erstrebte Benehmen der herrschenden Klasse und aller, die dem Adel nacheifern wollten. Am chaotischen Ausgang des Mittelalters, im 16. Jahrhundert, entwickelte sich eine Satireform, die als „Grobianismus“ Eingang in die Literaturgeschichte fand. Man verletzte dabei bewusst die Umgangsformen, Volksbücher wie der Till Eulenspiegel oder Sebastian Brants Narrenschiff suhlen sich in „groben sitten und unhöflichen geberden“. Das war aber nicht bloß literarische Mode. Wie es im Spätmittelalter gesamtgesellschaftlich zuging, weiß man: Man schlug sich gegenseitig die Köpfe ein. Das war dann nicht mehr Satire.
In den folgenden Zeiten versuchte man in den herrschenden Kreisen wieder mit strengen Codes von „Courtoisie“ die alte „Ritterlichkeit“ und Vorbildhaltung des Adels zurückzugewinnen, was aber bald zu leerer Galanterie verkam und in formaler Etikette erstarrte, sodass sie vom Volk zu Recht als Heuchelei empfunden wurde. Man schlug sich nach der Französischen Revolution, bis eine neue Herrschaftsform neue Umgangscodes entwickelte, über lange Jahre gegenseitig die Köpfe ab.
Mit der Machtübernahme des Bürgertums nach dem großen Köpfe-Rollen kam schließlich die „Gute Kinderstube“ in Mode. Dafür musste man allerdings so etwas wie eine Kinderstube erst einmal besitzen. Und das Proletariat hoffte, mittels Erziehung und entsprechend bürgerlichem Benehmen, in diese Riege aufzusteigen. In den sozialen und politischen Verwerfungen der Zwischenkriegszeit geriet die gute Kinderstube aber in Verruf. Zuerst pöbelte man, dann schlug man Fensterscheiben ein, schließlich brachte man ein paar Millionen Menschen in KZs und Kriegen um. Danach war man so erschöpft, dass man für eine Zeitlang wieder Wert auf gutes Benehmen legte.
Seit einigen Jahren ist jetzt eine neue Grobianismus-Schule im Entstehen. Sie wird angeführt von modisch auftretenden populistischen Politikern (manchmal auch -innen). Mit dem Populismus kehrte das Pöbeln zurück (oder war es andersrum?) Dieser „Neue Stil“ der Politiker wird dem Bürger wieder einmal als Volksnähe und Wahrheitsliebe verkauft. Dumm nur, dass Pöbeleien in Wirklichkeit weder Wahrheitsliebe noch Volksverbundenheit (im Sinne von Wahr-Nehmung der Realitäten und des Gegenübers) bedeuten, sondern jedes Gegenüber, gerade auch diejenigen, die sich davon ansprechen lassen, pauschal mit heruntermachen. Sowohl „Entgegenkommen“ (im Sinne einer Suche nach Überwindung von Differenzen) als auch „Feingefühl“ (Empathie) scheinen aus dem Repertoire der Umgangsformen bei den Herrschenden zu verschwinden und wieder gänzlich dem Grobianismus weichen zu müssen. Der Mächtige erhebt sich wieder einmal arrogant über das „tumbe volk“, das so abgrundtief dumm ist, ihn für die Demütigungen auch noch zu wählen und es toll zu finden, ihn nachzuahmen. Politiker:innen, die sich der neuen Rücksichtslosigkeit entgegenstellen und sich sozial verträglich zu benehmen versuchen, werden von der neuen Plebs abqualifiziert und mit hate-speech verfolgt. Die ersten Köpfe sind bereits gerollt.
Dabei wären Höflichkeit und gute Manieren, die von Achtung fürs Gegenüber zeugen, doch eigentlich die beste Methode, mit Andersdenkenden ins Gespräch zu kommen, Differenzen auszureden und Krisen zu bewältigen. Höflichkeit ist ja quasi das Kopflausen in missgestimmten Menschentier-Gruppen. Man fragt sich bloß, warum wir trotz besseren Wissens schon wieder im Begriff sind, in die finsteren Zeiten des Grobianismus und womöglich sogar hinter die Primatenaffen zurückzufallen?