Was bleibt dem Romancier, der Romanautorin, den Märchenerzählern noch zu tun, wenn Fiktionen die Macht über die Wirklichkeit übernehmen?
Wenn etwa ein zusammengekarrtes „Volk“ auf dem Roten Platz die Fake-Annexion von fiktiv eingenommenen Gebieten frenetisch bejubelt, was anschließend von künstlich generierten Bots millionenfach in alle Welt als real hinausposaunt wird?
Oder wenn Avatare von ABBA auf der Bühne stehen und die alten Hits mit den jugendlichen Stimmen von ehedem elektronisch zum Besten geben, während die realen Musiker, gealtert und stimmlos, zusehen, wie das Publikum bei ihrer Fake-Darbietung in Ekstase verfällt?
Und wenn uns Schauspieler in Werbespots, Influencer oder Religionsführer alle nur erdenklichen Glücksversprechen in authentischer Szenerie auftischen und alle Welt sich daraufhin real zu Tode rackert, um sich für einen vorübergehenden Moment so zu fühlen wie diese kunstvoll erschaffenen Figuren?
Wenn selbsternannte Wissenschaftler diversester Couleurs neben echten Forschern täuschend ähnlich auftreten und ihre Erkenntnisse und Produkte als wahres Heilmittel gegen sämtliche Fährnisse der Existenz verkaufen? Und manchmal helfen diese wahnwitzigen Placebos sogar tatsächlich für kurze Zeit …
Mit genügend Überzeugungskraft vorgebracht schlägt Fiktion die Realität allemal. Aber war das nicht bisher die Daseinsberechtigung von uns Romanschriftstellern? Man könnte deshalb meinen, wir könnten die Weltherrschaft übernehmen in einer solchen Märchenwelt. Doch leider nein! Die begabtesten Geschichtenerfinder wandern nun zu Werbewirtschaft und Politik und in die Neuen Medien ab, wo es endlich etwas zu verdienen gibt. Ein paar Idealisten verirren sich vielleicht als Journalisten zu den spärlichen Überresten von Qualitätspresse und recherchieren fortan mit literarisch-forensischer Akribie Fakten, die von wenigen gelesen und von noch weniger Leuten geglaubt werden. Und im Gegenzug wenden sich Theater und Verlage, die alten Brötchengeber der Literaten, nun von der Fiktion ab und zunehmend dem Historischen, Biografischen, Realen zu.
Was also bleibt den armen Geschichtenerzählern noch übrig, wenn sie weiterhin unbeirrt Gegenwelten erfinden wollen? Etwa Science Fiction, Horror, gar Lyrik? Auch diese Metiers werden bereits überzeugend echt von Algorithmen gebastelt …