(c) Helmuth Schönauer

Alpenarchitektur nach Alexander Kluge

4 Minuten Lesedauer

In loser Folge stellt das Alpenfeuilleton Ereignisse, Schicksale oder Gegenstände vor, die das Zauberwort „Alpen“ genetisch in sich tragen.

Es vergeht auf diesem Globus kein Tag, an dem nicht ein Text über die Alpen verfasst würde und sich wie eine Kleinseuche über die nächstbeste Siedlung hermachte.

Das hängt mit den Virus-artigen Noppen zusammen, mit denen das Thema Alpen ausgestattet ist, sodass es überall an Textzellen andocken und sich vermehren kann.

Wie überhaupt die geographische Weitläufigkeit des Themas beeindruckt. Die Alpen können genauso als Fels in Neuseeland auftreten wie in Europa, sie können aber als Bild oder Archivmaterial in Kasachstan neben Erdbohrkernen liegen oder im Kindergarten einer indigenen Siedlung als Bilderbuch neben einem Bärenfell.

Das hat mit jener ideologischen Grandezza zu tun, mit der der sogenannte Alpinismus ausgestattet ist, sodass er abwechselnd in Herz und Hirn der Erdenbewohner eindringen kann, um diese stracks zu Alpin-affinen Menschen zu machen. 

Einer der größten Essayisten und Textarchitekten der Gegenwart ist Alexander Kluge. Zum neunzigsten Geburtstag hat man sein „Buch der Kommentare“ veröffentlicht, in welchem auch eine Stelle über die Alpen vorgestellt wird samt Grundanleitung für die Lektüre.

Alexander Kluge schreibt zwar auf jeder dritten Seite seines Werkes über Halberstadt, worin er als Kind ein Totalbombardement überleben durfte, ehe er dann nach Bayern ausgerissen ist, aber längst steht der Drehsessel für seine Beobachtungen in der Gegend von München.

Bei günstiger Lage des Drehsessels sieht er die Alpen, wie sie sich in sich selbst spiegeln und mit Lichtreflexen aneinander reiben.

Die Notiz, die er darüber verfasst, ist hermetisch als Textblock gestaltet, sodass man sich schwer tut, ohne Anstrengung in das Innere des Gedankenmeteoriten zu gelangen.

(Alexander Kluge verfasst die Gedanken wie Meteoriten, die zum Teil verglühen, ehe Fragmente davon auf die Erde prallen und von Lesern angeschliffen und gelesen werden können.)

Schlüsselwörter sind in Blockbuchstaben gedruckt, denen man es anmerkt, dass sie mit großer Hingabe aus dem Bleistift gedrückt werden von einem Kind, das gerade schreiben lernt. 

Notizen der Marke Kluge sind am ehesten als Fallbeispiel zu lesen, weshalb oft eine Person mit unauffälligem Eigennamen auftritt, quasi als Frau Mustermann eingestreut in einen mustergültigen Text.

ALPENARCHITEKTUR

In 25 Kilometer Luftlinie Abstand vom Montblanc hätte Bruno Taut gern eine Bergkuppe – wie mit einer DURCHSICHTBLENDE – mit einer Serie von in den unterschiedlichen Farben des Tages leuchtenden Gläsern ausgerüstet. Sähe man vom nächstgelegenen Berg im Norden Richtung Rhone, so würde sich die Reihe von acht Glasflächen als „durchsichtiger denn Luft“ und auch als „Schatzgräber des Lichts“ zeigen. Für einen, der es nicht selbst sähe, wäre die Wirkung schwer zu beschreiben. Keine Vergrößerung! Keine Hinzufügung von irgendwas: ABSOLUTES LICHT. Dafür hätte Bruno Taut aber die Adresse der Werkstatt haben müssen, die für das Toyoshima-Projekt das Glas anfertigte.

Alexander Kluge, Das Buch der Kommentare; S. 271 (2022)

STICHPUNKT 22|76, geschrieben am 26. 09. 2022

Geboren 1953. Ist seit Gerichtsverfahren 1987 gerichtlich anerkannter Schriftsteller, bis 2018 als Bibliothekar an der ULB Tirol. Als Konzept-Schriftsteller hält er sich an die These: Ein guter Autor kennt jeden Leser persönlich.

Etwa 50 Bücher, u.a.:
* BIP | Buch in Pension | Fünf Bände (2020-2024)
* Anmache. Abmache. Geschehnisse aus dem Öffi-Milieu. (2023)
* Austrian Beat 2. [Hg. Schneitter, Schönauer, Pointl] (2023)
* Verhunzungen und Warnungen. | Geschichten, entblätterte Geschichten, verwurstete Geschichten. (2022)
* Outlet | Shortstorys zum Überleben (2021)
* Antriebsloser Frachter vor Norwegen | Austrian Beat (2021)
* Tagebuch eines Bibliothekars | Sechs Bände (2016-2019)

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.