Biographische Einschnitte sind für die handelnden Personen stets Neuland, sodass die meisten überfordert sind.
Die Probleme entstehen dabei quasi über Nacht. Man schläft kurz ein, und als man aufwacht, liegt es schwer auf der Brust, dieses Problem, das gestern noch weit weg gewesen ist. Noch vor Stunden undenkbar, dass es den Weg in die Wohnung, ins Bett und auf die Brust gefunden hat!
– Ich krieg ein Kind, wie teile ich das mit?
– Ich heirate eine Promi-Frau, wie kriege ich den Porsche mit aufs Hochzeitsporträt?
– Ich kandidiere bei einer Arschlochpartei, bitte bleibt mir trotzdem treu!
Für alle diese Ereignisse gibt es Coachings, kleine Lehrvideos und schließlich einen Vordruck, mit dem man nach alter Sitte mehr oder weniger schlicht per Mail oder Smiley seine neue Lage mitteilen kann.
Für die Post-Siebzigjährigen kommt nur die alte Mail-Post in Frage, wenn sie so etwas Entscheidendes wie „die letzte Wohnadresse“ mitteilen.
Da viele in diesem Alter kein Coaching mehr in Anspruch nehmen, schreiben sie einfach von einander ab, und so hat sich allmählich ein standardisiertes Mail entwickelt.
neue Wohnadresse
Foto des Kontakts
Liebe FreundInnen und Bekannte,
einige werden es schon wissen, den anderen teile ich es jetzt mit.
Ich bin in eine kleinere Wohnung gleich neben dem Wohnblock von M. umgezogen und habe keine Stufen mehr zum und vom Lift; d.h. der Rollator kann kommen.
Ich hab jetzt neben der Postadresse eine Mobiltelefonnummer (Festnetz ist weg) und die mailadresse; wer neugierig ist: ich hab auch eine home-page.
Ich wünsch noch einen schönen Sommer
Fury Mustermann
Wer die Mails nicht gleich wegschmeißt, sondern in einem Depot für die Korruptionsjäger abgelegt hat, wird mit der Suchfunktion „Rollator“ leicht feststellen, dass er schon Hunderte dieser Mails gekriegt hat.
Ganz arg ist diese Trennung von alten Wohnsituationen bei Büchermenschen, die sich für die letzte Übersiedlung so gut wie aller Bücher entledigen müssen, weil in der neuen Lage kein Platz mehr ist für unhygienische Jahresschmand-Sammlungen.
Geradezu herzzerreißend ist es, wenn diese Menschen dem Mail eine Liste beilegen, was sie gerade entsorgen müssen.
Manche hoffen noch, dass jemand diese Bücher übernimmt und am Leben erhält.
Da sollte man vielleicht mit einem Gegen-Mail antworten, das hier ebenfalls als Mustermail entworfen ist.
Lieber Fury Mustermann
ich hoffe, du fühlst dich in deiner Rollatorwohnung halbwegs wohl,
Kopf hoch und die Hände fest auf die Haltegriffe!
Ich möchte dir als ehemaliger Bibliothekar mitteilen, dass du nicht alleine bist. Wir alle werfen unsere Bücher früher oder später weg.
Der Lieblingsort des Buches ist ohnehin das Archiv. Denk dir also, dass deine Bücher als irgendeine Doublette im Landes-Magazin in Gärberbach stehen und die größte Gaudi haben.
Die Bücher reden nämlich miteinander, wie sie es von den Lesern gelernt haben.
Sie sind daher niemals einsam.
Herzlich Dein Landesbibliothekar
STICHPUNKT 22|86, geschrieben am 07.11. 2022