(c) Helmuth Schönauer

Sprichwörtlich

6 Minuten Lesedauer

Was wäre unser Leben ohne sie!
Wie kämen wir durch den Tag, ohne ihre klare Botschaften!
Welche Freude sie auslösen, wenn im Dunkel von amorphen Ansagen plötzlich das Licht einer geheimnisvollen Logik aufblitzt!

Die Sprichwörter haben es in sich. Ohne sie geht gar nichts. Keine politische Entscheidung, kein Fundament für eine Religion, keine letzten Worte für das Sterben, wenn es die Sprichwörter nicht gäbe.

Längst sind die Sprichwörter ins Netz ausgewandert und lassen sich dort über alle erdenklichen Apps zu jedem Anlass herunterladen.

In diesem allgemeinen Glückstaumel rund um diese Sprüche, Posts und Headlines, geht freilich die Tatsache verloren, dass diese Sprichwörter das Ergebnis mühsamen Nachdenkens und kreativen Tippens sind.

Faustregel: Mit einer Ansammlung von Emoticons kriegst du noch kein Sprichwort zusammen. Du musst dich hinhocken, brüten, denken, dichten, bis du ein Sprichwort zusammenkriegst, das dich überleben wird!

Und noch eines fordern die Sprichwörter von dir: Kaum hast du sie mühselig geboren, musst du sie anonym hinauslassen in die Welt auf Nimmerwiedersehen.

Niemanden interessiert es nämlich, wer ein gutes Sprichwort kreiert hat, alle nehmen es wie ein sperriges Allgemeingut unter den Arm und quetschen sich durch das nächstbeste Gespräch damit.

Aus der Sprichwort-Werkstatt des Alpenfeuilletons sind hier fünf Beispiele vorgestellt, die ohne Quellenangabe übernommen und dem kollektiven Wissensschatz hinzugefügt werden können.

1.

Je größer das Leintuch, umso kleiner der Brunzfleck.
In archaischen Zeiten, als das Leben der Kleinen nicht nach pädagogischen Richtlinien abgewickelt, sondern oft nach Sprichwörtern ausgerichtet wird, legt man die Kleinen oft ins Elternbett, wenn sie ihr kleines Bettchen Nacht für Nacht niederbrunzen.
Tatsächlich hören Kleinkinder durch diese Maßnahme oft schlagartig mit dem Bettnässen auf, oder, wenn medizinisch notwendig, machen nur mehr kleine Flecken.
Tatsächlich sind am Morgen auf dem großen Leintuch kaum Spuren vom Säugling zu sehen, während die Eltern ordentlich herumpatzen auf dem Leintuch.

2.

Je flacher das Dach, umso weniger Regen fällt darauf.
Diese physikalische Beobachtung geht auf Zeiten zurück, in denen der Regen noch ausgiebig wirken kann und immer dann aufmuckst, wenn sich ihm ein Hindernis in den Weg stellt. 
Die Anden: Der Regen ärgert sich, klettert aus dem Meer heraus und regnet ab.
Die Alpen: Der Regen klettert aus der Adria heraus, ärgert sich und regnet ab.
Das Steildach: Der Regen fetzt über die Ebene, prallt gegen ein Steildach, ärgert sich und regnet ab.
Das Flachdach: Der Regen sieht es von weitem, sieht, dass es nichts zum Ärgern gibt, und dreht so weitläufig ab, dass auf den Äckern der Staub aufgeht.

3.

Erst kontaktieren, dann urteilen!
Vor dem Hundesalon steht der Dienstwagen der Hundepädagogin. Sie hat ihr Motto auf die Heckscheibe geschrieben, weil sie sich nicht ständig vom Vorurteil anmachen lassen will, dass Hunde beißen.
Tatsächlich hilft der Spruch den frisch Gebissenen, sie wissen nämlich, was sie der Hundepflegerin sagen werden, wenn sie ihr die angebissene Gliedmaße zeigen.

4.

Das Dichter machts persönlich.
Auf der Frankfurter Buchmesse wird ein geschlechtsloses Wesen mit dem Buchpreis ausgezeichnet. Die einen meinen, es handele sich um ein Friseur-Sternchen, weil sich das Medium während der Preisübergabe die Haare schneidet, die anderen sprechen von einem Dichter-Sternchen, das auf dem eigenen Haar schreibt wie auf einem Display.
Da es sich auf jeden Fall um eine meisterliche Leistung handelt, einigt man sich auf den alten Handwerksspruch: Das Dichter machts persönlich.

5.

Wenn du nicht zur Leihmutter kommst, muss sie zu dir kommen.
Im Krieg geht es dermaßen drunter und drüber, dass die ehemaligen Vereinbarungen und Verordnungen völlig wirkungslos sind.
So ist es kaum noch möglich, das biologische Zeugungsmaterial aus westlichen Wohlstandsfamilien gefahrlos in die Ukraine zu liefern und dort den Leihmüttern einzupflanzen.
Vielmehr kommen diese jetzt zusammen mit den eigenen Kindern in den Westen und wollen Unterschlupf, bis der Krieg vorbei ist.
Als Leihmütter freilich können sie nicht arbeiten, weil das Leih-Gebären auf EU-Gebiet verboten ist.
Die potentiellen Westeltern können sich zudem nicht entscheiden, ukrainische Kinder zu adoptieren, weil sie Frischware wollen aus eigener Erzeugung.

Generell gilt, dass Sprichwörter stärker sind als die Realität. Wenn also ein Sprichwort nicht passt, pass die Realität an, nicht umgekehrt.

STICHPUNKT 22|92, geschrieben am 29.11.2022

Geboren 1953. Ist seit Gerichtsverfahren 1987 gerichtlich anerkannter Schriftsteller, bis 2018 als Bibliothekar an der ULB Tirol. Als Konzept-Schriftsteller hält er sich an die These: Ein guter Autor kennt jeden Leser persönlich.

Etwa 50 Bücher, u.a.:
* BIP | Buch in Pension | Fünf Bände (2020-2024)
* Anmache. Abmache. Geschehnisse aus dem Öffi-Milieu. (2023)
* Austrian Beat 2. [Hg. Schneitter, Schönauer, Pointl] (2023)
* Verhunzungen und Warnungen. | Geschichten, entblätterte Geschichten, verwurstete Geschichten. (2022)
* Outlet | Shortstorys zum Überleben (2021)
* Antriebsloser Frachter vor Norwegen | Austrian Beat (2021)
* Tagebuch eines Bibliothekars | Sechs Bände (2016-2019)

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