Nach fast einem Jahr Krieg in der Ukraine haben die meisten von uns die Schnauze voll. Nicht nur, dass kein Ende abzusehen ist und aus spontan Geflüchteten bereits Einheimische werden, es sind auch Sprache, Freizeit und überhaupt unser Lebensstil zu Kampfgebieten geworden.
Was immer wir auch denken und sprechen, es erzeugt ein schlechtes Gewissen.
– Ja darf man noch mit der Drohne ins Freie gehen, wenn andernorts einen die Drohnen abschießen?
– Darf man noch mit dem Hund kurz auf den Rasen, wenn andernorts bereits die Bewohner in den Keller machen müssen, weil Sanitäreinrichtungen zerbombt sind?
– Darf man noch Kugelbomben zünden, wenn andernorts schon Silvesterschützen zerfetzt sind?
Während wir den echten Krieg also nicht mehr ertragen, schaffen wir uns Wochenende für Wochenende einen kleinen Freizeitkrieg, damit wir den kriegerischen Wortschatz und seinen martialischem Aufmarsch irgendwie unterbringen können.
Wie seinerzeit in Vietnam schweben Helikopter in Schwärmen über die Lawinenkegel, welche die ganze Nacht hindurch abgescannt und sondiert werden.
Wörter wie Vermisste, Verschüttete, Opfer, Hinterbliebene, Notoperationen, Gelände, Abbruch schwirren durch das Netz.
Die Nachrichtensendungen haben die Schleife „Breaking news“ am unteren Bildschirmrand im Dauereinsatz.
Wir sind zerrissen: einerseits wollen wir keinen echten Krieg, weil er uns über den Kopf hinaus wachsen würde, andererseits sind wir stolz, wenn wir ab und zu auch einen kleinen Krieg haben, einen „Krieg mit Fun“ sozusagen.
Da bieten sich natürlich die Freizeitkriege im offenen Gelände an.
Woche für Woche brausen im offenen Gelände die Helden der Gegenwart über die Hänge und fordern die Lawinen frech heraus.
Während die Pioniere des Freizeitkriegs dem Schnee noch die Zunge zeigen und „Leck mich!“ rufen, machen sich zu Hause schon die Bergretter bereit, in einen Einsatz den Lawinenkegel zu stürmen.
Die Helikopter sind bereit, die Hunde zerren an den Leinen wie in einem Ausbildungsfilm. Die Privatkliniken haben die medizinischen Geräte hochgefahren und die Datenleitungen zu den Versicherungen geöffnet. Sie werden um Leben und Tod operieren und die Rechnungen an die Versicherten schicken.
Letztlich wird in diesem Krieg nichts passieren, alle sind versichert, alle werden operiert, niemand wir unter einem Lawinenkegel vergessen.
So träumen wir Woche für Woche von unseren kleinen Kriegseinsätzen umrahmt von Fun.
– Im letzten Jahr sind in Tirol jeden Tag elf Mal Helikopter für irgendeinen Notfall in die Luft gegangen.
– Im alten Winterjahr sind bereits ein Dutzend Schi-Tote zu beklagen.
Einen besonders gelungenen Kriegseinsatz haben wir zu Weihnachten hingelegt, als in den Nachrichten eine Nacht lang auf allen Kanälen von zehn Verschütteten am Arlberg die Rede war.
Wir aber haben gewusst, dass alles nur Fun ist.
Bereits am ersten Wochenende konnte den Touristen in aller Welt vermittelt werden: Kommt zu uns, bei uns gibt es gratis Krieg, bei dem euch nichts passiert!
Tatsächlich sind alle am nächsten Tag wieder begeistert unterwegs. So soll es sein, dem Tod ins Auge schauen, Fun haben, den Schrecken mit den Wörtern aus der Ukraine abwenden!
Am Schluss wird alles ins Netz gestellt und geteilt.
Das Video mit den zehn Personen, die vor der Lawine flüchten und schließlich probehalber von ihr geleckt werden, geht noch immer um die Welt.
STICHPUNKT 23|02, geschrieben am 02.01.2023