(c) Helmuth Schönauer

Unruhe beim Cannabis-Konsum

5 Minuten Lesedauer

Eine literarische Nachmittagsnotiz

– Soll Cannabis legalisiert werden?
– Nein, weil dann wäre es legal wie Alkohol und würde wirkungslos, weil es ja nicht mehr verboten wäre.

Und selbst eingefleischte Alkoholiker geben zerknirscht zu, dass der Alkohol nichts bringt, weil er ordinär und überall erlaubt ist.

Im Nachbarhaus muss sich wer erhängt haben, weil ständig forensisches Personal ein und aus geht und allerhand Dienstwägen in der Einfahrt stehen.
Aber so sehr wir auch gucken und glotzen, wir bekommen den schwarzen Sack nicht zu Gesicht, in den man den Leichnam wohl eingewickelt hat.

Noch ist nicht sicher, ob es überhaupt zu einer Erhängung gekommen ist. Aber wir gehen davon aus, weil wir so die sinnlosen Sätze des Nachbarn aus der letzten Zeit irgendwie einordnen könnten.

Eine mit-räsonierende Frau wird uns vier Rentnern gegenüber aggressiv, als sie uns vorwirft, wir hätten immer nur den Nachbarn am Strick.

Habt ihr schon einmal daran gedacht, dass es auch „sie“ sein könnte, die sich aufgehängt hat?

Aufhängen ist Männersache, sagt ein Mann und bereut es auch gleich, denn die Frau verlässt die Runde und will an diesem Nachmittag nichts mehr mit uns zu tun haben.

Wenn wir die Sätze des Nachbarn so Revue passieren lassen, merken wir, dass er eigentlich immer nur von Listen gesprochen hat, Listen von Städten mit den weltweit größten Mordquoten, um genau zu sein.

– „Wenig verwunderlich liegen die meisten der gefährlichsten Städte in Südamerika. Negativ-Spitzenreiter ist Los Cabos in Mexiko, was die Relation zwischen Mordfällen (365) und Einwohnern (328.245) zeigt. Das entspricht einer Mordrate von 111.33 pro 100.000 Einwohnern.“

Das musst du dir vorstellen, im Jahr 111 Morde in Innsbruck, wenn man das umrechnet.

– „In absoluten Zahlen gesehen liegt aber eine andere Stadt auf Platz eins. Und zwar Caracas, die Hauptstadt Venezuelas. In der Stadt mit mehr als drei Millionen Einwohnern gab es 3387 Mordfälle. Die Zahl ist ein wenig gesunken, 2016 gab es noch über 4000 Morde, man kam damit auf 130 Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohnern.“

– „Vier Mal sind auch die USA im Ranking vertreten. Die gefährlichsten Städte sind hier St. Louis (205 Morde, 311.404 Einwohner), Baltimore (341 Morde, 614.664 Einwohner), New Orleans (157 Morde, 391.495 Einwohner) und Detroit (267 Morde, 672.795 Einwohner).“

Jeder von uns hat diese Zahlen im Kopf, wenn er an den Nachbarn denkt, der sich jetzt vielleicht erhängt hat.

Die Hausärztin hat ihm empfohlen, weniger Fleisch zu essen und Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.

Damit wollte sie ihm einen Sinn andeuten, den er erfahren könnte, wenn er weniger Fleisch isst.

Er jedoch ist noch einmal eine Spur verschlossener geworden und hat sich erneut die Mordstatistiken des Vorjahres kommen lassen, von verschiedenen Agenturen, aber sie hatten alle das gleiche Zahlenmaterial.

Sein Gedankengang war einfach: Wenn ich in eine Stadt mit hoher Mordrate ziehe, sinkt dort wegen der vielen Personen, die letal ausgeschieden sind, der CO2-Ausstoß, und ich kann um dieses frei werdende Kontingent allerhand Fleisch essen.

Als seine Frau, die eine aktive Kleberin ist, ihn auf die Unart dieser Rechenweise hinwies, soll er getobt haben.

Jedenfalls steht es so im Polizeiprotokoll.

„Der Tobende wurde mit einem dreitägigen Betretungsverbot behängt. Dieses konnte aber nur indirekt angewendet werden, weil sich der Tobende beim Eintreffen der Polizei außen an die eigene Wohnungstür geklebt hatte.“

Tatsächlich fiel der Schnellkleber nach drei Tagen wieder von den Händen ab, sodass das Betretungsverbot wieder deaktiviert  werden konnte.

Leidtragende war freilich die Frau, die währen des Betretungsverbots die Wohnung nicht verlassen konnte. Zudem soll der Angeklebte drei mal am Tag viel Wirbel mit seinem Stuhlgang gemacht haben.

„Und sie soll sich jetzt umgebracht haben? – Das glaubt niemand!“

Da sind sich alle einig, „er“ muss sich erhängt haben, alles andere wäre unlogisch.

Aber der einzige, der Gewissheit verschaffen könnte, wäre der schwarze Sack, und der will ums Verrecken nicht aus dem Haus getragen werden.

[Zahlenmaterial aus: de.statista.com]

STICHPUNKT 23|59, geschrieben am 26.06.2023

Geboren 1953. Ist seit Gerichtsverfahren 1987 gerichtlich anerkannter Schriftsteller, bis 2018 als Bibliothekar an der ULB Tirol. Als Konzept-Schriftsteller hält er sich an die These: Ein guter Autor kennt jeden Leser persönlich.

Etwa 50 Bücher, u.a.:
* BIP | Buch in Pension | Fünf Bände (2020-2024)
* Anmache. Abmache. Geschehnisse aus dem Öffi-Milieu. (2023)
* Austrian Beat 2. [Hg. Schneitter, Schönauer, Pointl] (2023)
* Verhunzungen und Warnungen. | Geschichten, entblätterte Geschichten, verwurstete Geschichten. (2022)
* Outlet | Shortstorys zum Überleben (2021)
* Antriebsloser Frachter vor Norwegen | Austrian Beat (2021)
* Tagebuch eines Bibliothekars | Sechs Bände (2016-2019)

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