Die landesübliche Meinung über das Theater fällt recht pragmatisch aus: Gebt den Theaterleuten etwas Geld, damit sie eine Ruhe geben und untereinander etwas zu reden haben!
Solange ich nicht ins Theater muss, ist mir jedes Theater recht!
– Diesen Satz hört man oft von jenen, die aus irgendeinem Grund auf die Homepage des Tiroler Landestheaters geraten sind und sich in den Kästchen mit Doppelpunkten verfangen haben.
– Wenn die auf der Bühne so spielen, wie sie sich auf der Homepage schriftlich äußern, dann Gnade Gott dem Publikum!
Das Theater im öffentlichen Jargon ist also eine nette Einrichtung, die Theater-Gehern wie Theater-Vermeidern gleichermaßen Freude bereitet durch Unauffälligkeit.
Der Sinn dieses gemeinnützigen Theaters liegt vor allem darin, dass man daran das „abwegige Theater“ messen und definieren kann. Dieses periphere Kontrast-Theater ist nämlich etwas, was auf dem Weg ins große Haus in den Öffis passiert, als Diskussion nach einer Recherche, als Demo für oder gegen ein Gefühl.
Im Jänner 2024 sind etwa folgende „abwegige Theaterformen“ zur Diskussion gestanden:
1.
Anlässlich des Todes der Autorin Helena Adler ist aus Tiroler Sicht noch einmal ihr Werk gewürdigt worden, indem man auf die Volksschauspiele Telfs verwiesen hat, worin sie mit „Trägheit“ einen wesentlichen Beitrag zu den „Sieben Todsünden“ gestaltet hat.
Nach der Melancholie, die beim Würdigen von frisch verstorbenen Literaturmenschen immer auftaucht, sollte man auch frohe Sätze fallen lassen.
Die Tiroler Volksschauspiele unter Gregor Bloéb sind das größte Theater, das in Tirol zur Zeit möglich ist.
Begründung: Er versammelt alle Schauspielenden zu einem einzigartigen Fest und bringt einen Stoff auf die Bühne, der jeden Menschen berührt. Eine Todsünde nämlich hat jeder auf dem Kerbholz.
2.
Das „Anreisetheater“ fußt auf der Erkenntnis, dass der Theaterbesuch nur die Ausrede ist, um mit den Öffis anzureisen und darin unendlich viele theatralische Sätze zu erleben. Diese werden teils ins Smartphone, teils beim Fenster hinaus, teils in ein gegenüber sitzendes Random-Gesicht hinein gesprochen.
Spitzenreiter im Jänner war dabei die Operette „Lass uns die Welt vergessen“ an der Volksoper Wien, die immer wieder als Ausrede für Innsbrucker verwendet worden ist, um endlich auf der Westbahnstrecke etwas zu erleben.
Die Bühnen „Railjet“ und „Westbahn“ buhlen schon seit Jahren um volle Auslastung. In letzter Zeit werden vermehrt Stehplätze verkauft, die eine Zuspitzung sonst vager Gefühle für die Öffentlichkeit ermöglichen. Alte Leute berichten, dass die Stimmung in den frühen 1950er Jahren ähnlich gewesen sei, damals hat man es Aufbruchsstimmung genannt.
In der Ausrede-Operette geht es übrigens um die Aufarbeitung der Nazizeit an der Volksoper.
3.
In Berlin kommt spontan ein Stück auf die Bühne, das sich so niemand gewünscht hat.
„Koproduktion Berliner Ensemble und Volkstheater Wien:
CORRECTIV ENTHÜLLT: RECHTSEXTREMER GEHEIMPLAN GEGEN DEUTSCHLAND. – Szenische Lesung in der Regie von Kay Voges.“
Darin wird ähnlich der Dokumentation über die Wannseekonferenz das Treffen Rechtsradikaler in Potsdam „nachgespielt“. Auf dieser Konferenz wird das spätere Unwort des Jahres „Remigration“ in den Mund genommen und ungeniert ausgesprochen
Plötzlich erfährt die Theaterform der „Eins-zu-eins-Realität“ unerträglich scharfe Brisanz.
4.
Im Treibhaus schafft es einen Tag später eine Dokumentation über Israel und Palästina aufs Podest, auf dem sonst oft Kabarett gespielt wird.
Während der Diskussion mit Historikern kommt es zu Hitler-Gruß und Hitler-Ruf. Die herbeigeholte Polizei sieht sich mit einer Person konfrontiert, die zwei bemerkenswerte Sätze gesagt haben soll.
– Ich musste es tun, weil ich sonst nicht zu Wort gekommen wäre.
– Ich habe nicht gewusst, dass das auch in Österreich verboten ist, ich dachte, das gilt nur für Deutschland.
Im Untergrundtheater des Treibhauses kommt jäh brisante Zeitgeschichte an die Oberfläche.
5.
Zum hundertsten Geburtstag von Otto Grünmandl springt das Tiroler Landestheater über den eigenen Schatten und tut so, als sei es immer schon ein großer Fan dieses Künstlers gewesen.
Wahr ist vielmehr, dass zu Lebzeiten des Otto Grünmandl ein Intendant aus Wien katholische Stücke wie den „seidenen Schuh“ die Bühne rauf und runter gespielt hat, damit kein Funken Wahrheit, und schon gar nichts Groteskes auf die Bühne kommen, um die Illusion vom Jenseits zu stören.
Otto Grünmandl auf der Bühne zeigt, dass der Wahnsinn immer größer ist als die Ignoranz.
Ähnliches hat man von Thomas Bernhard gesagt, den man „andernorts“ immerhin zu Lebzeiten gespielt hat.
Generell zeigen die Formen des Kontrast-Theaters, dass der Theaterwahnsinn größer ist als die Theaterignoranz.
Das ist eine überraschend gute Botschaft!
STICHPUNKT 24|08, geschrieben am 20.01. 2014