Da soll noch einer behaupten, dass die KI nicht auch Segensreiches mit sich bringen wird.
Vor ein paar Jahren fiel ja mit Einführung der Zentralmatura in den Sprachfächern der lange, eigenständig komplexe Gedanken entwickelnde, „freie“ Argumentationsaufsatz bzw. eine ebensolche Textinterpretation zu Gunsten von — abzählbaren und angeblich mit standardisierten Punkten objektiv bewertbaren — Textbausteinen vorherbestimmten Inhalts. Prüfungsfragen und Korrekturvorgaben werden von hochbezahlten Prüfungsentwicklern mit (manchmal eher begrenztem) Vorstellungsvermögen erstellt. Diese geben vor, was man zu einer Fragestellung unbedingt sagen muss oder keinesfalls sagen darf. Doch inzwischen könnte ChatGPT sowohl die Aufsätze als auch die Korrekturschemata besser und mit geringerem Aufwand erstellen. Die so entstandenen prächtigen neuen Schummeltechniken werden sich gewiefte Prüflinge sofort zunutze machen, noch lange bevor die Prüfungskommissionen diese auch nur durchschaut und dann ausdiskutiert haben.
Auch die Vorwissenschaftliche Arbeit, gut gemeint, aber von Anfang an ein breites Einfallstor fürs Schummeln, kann nun ruhigen Gewissens wieder aufgegeben werden. Dafür wurde zwar immer schon hemmungslos Fremdintelligenz angeheuert: Gratis Google-Plagiate von finanziell Minderbemittelten, bezahlte Agenturen und Studenten von finanziell Bessergestellten. Die ÖVP-Bildungsminister sahen stets großzügig darüber hinweg, denn die privilegierten Kinder ihrer Klientel schafften es so allemal durch die Reifeprüfung. Nur die Armen und Ungeschickten wurden entdeckt und aussortiert, was dem Bildungsideal dieser Partei ja voll entspricht. Doch nun steht mit ChatGPT auf einmal auch dem Proletarierkind der Weg zu Matura weit offen! Da wacht der Bildungsminister plötzlich auf!
Selbst für einen hochtrabenden akademischen Titel (den man im hiesigen Beziehungsgeflecht für eine Karriere braucht) muss man jetzt nicht mehr an einer teuren, obskuren Privatuniversität inskribieren oder einen professoralen Parteifreund als Gutachter für eine geistesschwache oder plagiierte Diplomarbeit suchen. Nein, ChatGPT öffnet den Zugang zum gesellschaftlichen und finanziellen Aufstieg mittels vorgespiegelter Intelligenz nun für Hinz und Kunz!
Wohin wird das nur führen?
Durch ChatGPT werden schließlich die Reifeprüfung ebenso wie der Doktorgrad letztlich zu dem werden, was sie immer schon waren: Reine Initiationsriten, die den Eintritt in die (bessere) Gesellschaft symbolisieren. Nachdem bei uns aber unnötig Gewordenes niemals abgeschafft wird, wird dieser Ritus wohl irgendwann zu seiner Urform zurückkehren müssen, in der es noch keine KI gab: Der Maturant/Doktorand der Zukunft wird sich, wie ehedem die Jäger und Sammler, seinen Ängsten auf anderen Gebieten als Mathe und Fremdsprachen stellen müssen. Möglicherweise wird er in Zukunft wieder mit Pfeil und Bogen ein Wildtier erlegen (die ÖVP empfiehlt Wolf oder Bär). Unter den Augen einer gestrengen amtlichen Prüfungskommission. Ganz ohne (künstliche) Intelligenz. Und natürlich ohne zu schummeln.