Japan 2024: Meine Erfahrungen

Der "Ameisenhaufen meines Herzens."

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Eigentlich hätte heute eine Kurzgeschichte über einen Mann erscheinen sollen, der innerhalb weniger Tage taub und verlassen wird. Da mein geschätzter Kollege Helmuth Schönauer aber darum gebeten hat, dass ich die Erfahrungen meiner kürzlich beendeten Japanreise in Worte fasse, bekommt dieser Bericht Vorrang.

Wo fängt man an?

Bei einem Land, das so anders ist als die eigene Heimat? So groß. So vielfältig. So überwältigend.

Bespricht man die endlos scheinenden Städte, wie Tokio, das 40 Millionen Menschen eine Heimat ist?

Redet man über die kulturellen Erlebnisse? Den Buddhismus? Den Shintoismus? Die heiligen Stätten? Die Momente, die einen innehalten und über das eigene Leben reflektieren lassen?

Erzählt man von der Popkultur, den blinkenden Werbetafeln, die bunter nicht sein könnten?

Berichtet man von der unfassbaren Fischqualität, der beeindruckenden Kulinarik oder den heißen Thermalbädern, die Onsen genannt werden?

Über jeden einzelnen Punkt könnte ich sehr ausführlich schreiben. Vielleicht mache ich das auch. Zu gegebener Zeit.

Heute möchte ich jenen Eindruck teilen, der mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben und mich zum Nachdenken gebracht hat.

In der Ultrakurzgeschichte „Japanisch für Anfänger“ zitiere ich ein japanisches Sprichwort.

Ein herausstehender/hervorstehender Nagel wird eingeschlagen!

Was auf den ersten Blick irritiert, offenbart die japanische Kultur – für mich! – wie kein zweiter Satz.

Wer aus Japan zurückkommt bekommt eine Ego-Watschn, die nachhallt. Denn im Gegensatz zur unserer Lebenswelt, steht in Japan die Gemeinschaft und nicht das Individuum im Mittelpunkt.

Die Konsequenzen dieses Denkens sind – für einen Touristen, der nur zwei Wochen dort ist – beeindruckend.

In Warteschlangen wird ohne Murren, ohne Drängeln und brav angestanden. Wenn an der Shibuya-Kreuzung in Tokio mehrere hundert bis tausend Menschen gleichzeitig gehen, wird niemand angerempelt. Öffentliche Toiletten sind nicht nur alle 200 Meter anzutreffen, sondern sauber. Weil das Klo so hinterlassen wird, wie man es selbst antreffen will. Trotz kaum vorhandener Müllkübel (hat mit einem Giftgas-Anschlag in der Tokioter U-Bahn aus dem Jahr 1995 zu tun) sind die Straßen sauber, da der Müll zumindest bis zum nächsten Mülleimer, im Ernstfall bis nach Hause getragen wird. In der U-Bahn herrscht Stille, weil der Lärm bei so vielen Menschen auf engstem Raum kaum erträglich wäre und man das Gegenüber nicht stören will. Menschen tragen freiwillig Masken, weil sie erkältet sind und niemanden anstecken wollen.

Japan funktioniert, wie ich mir einen funktionierenden Ameisenhaufen vorstelle. Geschäftig, fleißig und perfekt organisiert.

All das sind die schönen Seiten dieser Denkschule. Das Gemeinsame zählt, nicht der einzelne. Die Schattenseiten sieht man erst auf den zweiten Blick. Einsamkeit. Überarbeitete Menschen. Kaum eine Chance auf individuelle Entfaltung. Unterdrückte Gefühle. Obdachlosigkeit, die nicht gezeigt oder gesehen werden darf. Hohe Selbstmordrate.

Ein Leben für die Gemeinschaft kann weh tun.

Diese Seiten gibt es. Doch in den zwei Wochen, die ich in Japan verbringen durfte, hat sich mir das Land von seiner schönsten und einer beeindruckenden Seite gezeigt.

Weil ich gesehen habe, dass ein anderer Weg als der Ich-bezogene, Ego-lastige (aus dem Westen) existiert.

Und wenn ich mir zu Weihnachten, in diesen global unfassbar herausfordernden Zeiten, etwas wünschen darf, dann, dass ein Mittelweg möglich ist. Wo ich ich selbst sein darf und gleichzeitig so viel Empathie mitbringe, dass die Gemeinschaft einen Wert hat. Letztlich kann ich mich nur an einem Ort entfalten, wo es mehr Meschen (im Idealfall allen) und nicht nur mir selbst gut geht.

In diesem Sinne werde ich ab sofort in Warteschlangen brav und geduldig anstehen. In Bussen schweigen. Und Toiletten sauber hinterlassen.

Arigato Gozaimasu!

Glaubt an das Gute im Menschen. Eigentlich Betriebswirt. Hat das ALPENFEUILLETON ursprünglich ins Leben gerufen und alle vier Neustarts selbst miterlebt. Auch in Phase vier aktiv mit dabei und fleißig am Schreiben.

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