Armes reiches Mädchen Europa!

3. März 2025
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Foto von Christian Lue auf Unsplash

Im von dir selbst geschaffenen Mythos warst du einst eine wunderschöne, von gütiger weltumspannender Macht träumende Prinzessin. Und jetzt das!

Jetzt hat sich schon zum zweiten Mal ein brutaler, sich selbst zum Gott hochstilisierender Stier unter deine friedliche Herde gemischt, seinen Nacken den (ahnungslosen oder berechnenden?) Freundinnen zum Kraulen angeboten, und du, du bist wieder auf den uralten Macho-Trick reingefallen, nur weil dieser Bulle weiß war und du glaubtest, er entstamme einer altbekannten Rasse. Weit gefehlt! Du warst ja immer schon viel zu arglos, kamst mit der Verderbtheit der Welt zu lange nicht in Kontakt — für eine machthungrige Bestie das perfekte Opfer!  Hinterhältig lockte der Stier mit Schutz und Reichtum, du müsstest dich nur auf seinen Rücken setzen und mit ihm in seinen Sonnenuntergang reiten. Umgarnte dich mit Allmachtsallüren: als seine Geliebte müsstest du dir keinen zarten Finger schmutzig machen. Er würde für dich sorgen, all deine Probleme null -komma -nichts beseitigen … Konnte denn jemand so naiv sein, diesem ungeschlachten Tier zu vertrauen?

Bei seinem letzten Auftritt ist er jetzt endgültig aus der Rolle des friedliebenden Freundes gefallen. Hat, für alle Welt sichtbar, wutschnaubend seine niedrigsten Instinkte, seine sehr ungöttlichen Beweggründe offenbart, indem er deine unselige Freundin, als sie ihn um Hilfe bat, böswillig verletzte und erniedrigte, sie in aller Öffentlichkeit zu Boden stieß und schließlich völlig enthemmt auf ihr herumtrampelte. Er hat mit diesem Auftritt vielleicht die ihn ängstlich beobachtenden Herde fürs erste eingeschüchtert, jedenfalls aber alle ehemaligen Freundinnen für immer verschreckt — und wähnt sich in seiner Selbstüberschätzung trotz alledem immer noch sicher, dich, Prinzessin Europa, als wertvollste Beute davonzutragen. Gen´ Sonnenuntergang.

Bitte, geliebte Europa, bleibe keine Sekunde länger auf seinem Rücken! Fürchte dich nicht vor dem Fall, fürchte dich vor dem Ritt! Spring ab! Sofort! Auch wenn du dir dabei ein verwöhntes Füßchen brichst! Auch wenn dein Krönchen dabei in den Schmutz fällt und du dein teures Kleid riskierst! Auch wenn am gegenüberliegenden Zaun schon ein anderer wilder Stier auf seine Gelegenheit zum Angriff lauert. Ängstige dich nicht zu Tode. Noch hält der Zaun.

Sammle schnell die verbliebenen Freundinnen und die Reste der einstmals stolzen Herde und mache dich – barfüßig und ein wenig angeschlagen, egal! — auf den Weg zurück in dein eigenes Reich. Stelle dich nicht schwächer, als du bist! Noch hast du deinen eigenen Kopf. Trage ihn hoch!  Noch kannst du deinen Weg selbst bestimmen. Kremple also die Ärmel auf, halte die Herde zusammen und hoffe, dass jene wilden Bestien, die sich zu Göttern erklärt haben, einander anderswo die Hörner in den Leib rammen. Du, armes, reiches, kluges Mädchen Europa, wappne dich dafür und lerne listig Distanz zu halten!

Und für den – ziemlich sicheren — Fall, dass einer der Stiere demnächst neuerlich auf dich zustürmt, oder gar beide gleichzeitig: Buche rechtzeitig den Selbstverteidigungskurs!

Geboren 1954 in Lustenau. Studium der Anglistik und Germanistik in Innsbruck Innsbruck. Lebt in Sistrans. Inzwischen pensionierte Erwachsenenbildnerin. Tätig in der Flüchtlingsbetreuung. Mitglied bei der Grazer Autorinnen und Autorenversammlung Tirol, der IG Autorinnen Autoren Tirol und beim Vorarlberger AutorInnenverband. Bisher 13 Buchveröffentlichungen.

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