Hier lauert die Gefahr

8 Minuten Lesedauer

Vor einer guten halben Stunde sind wir von der Pfeishütte aufgebrochen. Unser Ziel. Der Parkplatz über Absam, am Eingang zum Halltal. Nun stehen wir auf einem Grat. Meine Freundin und ich. Sie hat mir erst vor wenigen Augenblicken erzählt, dass Klettern für sie überhaupt kein Problem sei. Nur abwärts klettern, davor habe sie große Angst. Der Grat an dem wir nun stehen scheint zugehört zu haben. Vor uns. Ein Bild des Grauens, wenn man ein wenig Höhenangst hat. Weiter unten erkenne ich einen schmalen Pfad der in die steile Wand geschlagen ist. Ich beginne beruhigend zu sprechen und erkläre vollmundig, dass sicher alles gut gehen würde. Wenige Minuten später ist da plötzlich kein Weg mehr.

Der Blick vom Grad aus in Richtung Halltal.
Der Blick vom Grat aus in Richtung Halltal. Hier ist der Weg noch deutlich sichtbar.

Der schmale Pfad, der von oben noch so vertrauenerweckend aussah und uns frohen Mutes hinabsteigen lies, hat sich irgendwie verflüchtigt. (Anm.: Der Hang dürfte auf Grund der schlechten Witterung abgerutscht sein.) Vor uns geht es einige hundert Meter nach unten. Erst stehen wir noch. Dann knien wir. Am Ende sitzen wir auf dem aufgewärmten Gestein. Wir klammern uns an die kleinsten Steine, an die dünnsten Gräser und versuchen dem Sand, der unter unseren Füßen in Richtung Tal rieselt, möglichst nicht zu folgen. Von Sekunde zu Sekunde verlässt uns der Mut. Ich schaue meiner Freundin in die Augen. Ich sehe Furcht. Angst. Schließlich Panik. Ich kann nicht anders. Auch wenn ich am liebsten einstimmen und davonlaufen würde, versuche ich ruhig zu bleiben, spreche monoton und gut zu. Langsam. Vorsichtig. Konzentriert und am ganzen Körper angespannt, tasten wir uns den Abhang hinunter. Nach einigen Minuten, die uns und unseren Körpern wie Stunden vorkommen, erreichen wir einen großen Felsen, der uns eine Ruhepause ermöglicht. Wir schauen ungläubig nach oben. Dort kommt ein Wanderer daher. Er ist gerade an dem Punkt, an dem der Weg plötzlich aufhört. Im oberen Teil der Wand. Ich habe kein gutes Gefühl.
Auf diesem Hang passiert das Unglück.
Auf diesem Hang passiert das Unglück.

Wir haben es mittlerweile bis zur Kante geschafft an dem die eine Steilwand auf die andere trifft. Dort liegen einige große Felsen, die uns den Abstieg erleichtern. Während meine Fußspannweite gerade so reicht, muss meine Freundin einmal um einen solchen Felsen herumklettern – zurück in den rutschigen Abhang. Sie verabschiedet sicht mit einem: „Ich bin gleich wieder bei dir.“ Mein Bauchgefühl verschlechtert sich. Ich zähle die Sekunden. Noch immer ist sie in der Rinne. Kein Blickkontakt. Ich schaue nach oben. Vor meinem inneren Auge sehe ich schon die Steine herunterschießen, die der Wanderer weiter oben losgetreten hat. Direkt auf meine Freundin zu. Das Bauchgefühl ist nun blanker Angst gewichen. Doch es kommen keine Steine. Es passiert, was ich nie für möglich gehalten hätte. Was ich mir nicht einmal erträumt hätte. Für einige Sekunden läuft ein Film vor meinen Augen ab. Der ältere Wanderer stürzt. Er stürzt ab. Er überschlägt sich. Wie eine Dummy-Puppe die man den Abhang hinunter schmeißt. Die Stecken fliegen. Er überschlägt sich ein weiteres Mal. Scheint bewusstlos. Mit voller Wucht prallt er auf den großen Felsen. Der regungslose Körper dreht sich in der Luft. Ich habe nur einen Gedanken. Er wird sie mitreißen. Er fliegt genau auf sie zu. Meine Angst hat sich in blanke Panik verwandelt. Gemeinsam werden sie stürzen. Zehn Meter. Zwanzig. Fünfzig. Hundert. Beide werden tot sein.
Der Hubschrauber kommt ein zweites Mal. Holt Notarzt und den Verletzten.
Der Hubschrauber kommt ein zweites Mal. Holt Notarzt und den Verletzten.

Ich springe über den großen Stein der mir die Sicht in die Rinne versperrt. Mit einem Satz. Schweißgebadet. Die Angst ist weg. Das Adrenalin schießt durch meinen Körper. Das Blut pumpt. Mein Herz klopft. Ich will sie retten. Ich werde sie beide retten. Ihn aufhalten. Sie schützen. Doch so weit kommt es nicht. Wenige Meter über ihr ist er liegengeblieben. Ich kann kaum hinsehen. Er rührt sich nicht. Ich rufe. Sie ruft. Die Frau des Mannes, oben in der Wand, ruft. Schreit. Panisch. Sekunden ziehen sich in die Länge. Alles in Zeitlupe. Er bewegt sich. Er stöhnt. Ein blutverschmiertes Gesicht. Ein leerer Blick. Er versucht den Kopf zu heben. Er versucht aufzustehen. Mit schroffem Ton verbiete ich es. Er versteht mich nicht. Er spricht kein Englisch. Kein Deutsch. Nur französisch. Er versucht wieder aufzustehen. Mit Händen und Füßen gelingt es uns ihn daran zu hindern. Von oben ruft der Bergführer der Gruppe, der der Mann angehört. Wir versuchen die Bergrettung zu erreichen. Wenige Minuten später kommt schon der gelbe Helikopter. Der Notarzt wird abgeseilt. Unsere Knie sind weich. Die Beine zittern. Als wir das Ende des Abhangs erreichen, den großen Schotter verlassen und endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben, fliegt der Helikopter gerade wieder talauswärts. Der Notarzt, der Mann – beide mit an Bord. Die Frau des Verunglückten bleibt zurück. Sie muss mit der Gruppe absteigen. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, welche Qualen diese Frau gerade durchleiden muss. Welche Gedanken schießen durch ihren Kopf? Warum muss so etwas passieren? Warum? Da gibt es viele Gründe.
Aus diesem Grund beschäftigen sich weitere Artikel im aktuellen AFEU-Schwerpunkt „Berg“ – unter anderem mit den Themen: „Unterschätzte Gefahren“ und „Sicherheit am Berg.“ Berge sind wunderbar. Doch wer sie erklimmen will, sollte dies mit Respekt und Achtsamkeit tun.
Ein letzter Blick zurück. Von hier unten, mit festem Boden unter den Füßen, sieht all das gar nicht mehr so furchteinflössend aus. Ein weiterer Beweis: Man darf den Berg nie unterschätzen.
Ein letzter Blick zurück. Von hier unten, mit festem Boden unter den Füßen, sieht all das gar nicht mehr so furchteinflössend aus. Ein weiterer Beweis: Man darf den Berg nie unterschätzen.

 
 
 
 
 
 
 
 

Glaubt an das Gute im Menschen. Eigentlich Betriebswirt. Hat das ALPENFEUILLETON ursprünglich ins Leben gerufen und alle vier Neustarts selbst miterlebt. Auch in Phase vier aktiv mit dabei und fleißig am Schreiben.

1 Comment

  1. Spannend verfasster Artikel und für jemand der selbst sehr gerne in den Bergen ist, gut nachvollziehbar. Auch ich hatte öfters den Gedanken: „Sch***, was mache ich nun schon wieder in dieser Wand?“ Auf „festem“ Boden angelangt wurde mir bewusst, dass ich wieder mal auf der Suche nach Adrenalin, Serotonin, Dopamin, …. kurz Glücksgefühle, war. Mir wurde klar, dass diese mit Vorsicht zu genießen sind, denn eine Gratwanderung kann diese auch schnell für immer verpuffen lassen.

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