Also frage ich, was bin ich im Vergleich zu jenen, die wir in unserer Kirche als Selige und Heilige, ja, als echte Vorbilder verehren, weil sie, ohne Rücksicht auf sich selbst und die oft weit abseits führende Meinung anderer, die Nächstenliebe gelebt haben, wie Jesus sie uns in aller Deutlichkeit und Einfachheit lehrte?
Unter diesen vielen fallen mir zu allererst der Apostel Simon Petrus, Franz von Assisi und Mutter Teresa von Kalkutta ein, deren Leben und Lehren ich einigermaßen gut kenne, und damit auch ihre menschlichen Makel.
Für sie gilt im gleichen Maße, was der verstorbene Alt-Bischof von Innsbruck, Dr. Reinhold Stecher, über den Patron seiner Tiroler Diözese, den heiligen Kirchenlehrer, Petrus Canisius, einmal gesagt hat: „Trotz seiner Persönlichkeit bleibt er in den Grenzen seiner Zeit … Er ist auch nicht frei von anderen zeitgebundenen Vorurteilen und Sichtweisen … diese nüchterne Feststellung gilt auch für Heilige – und ist letztlich ein Trost für uns alle.“[1]
Und tatsächlich ist es tröstlich, zu wissen, dass die vielleicht Besten unter den Christenmenschen ebenfalls nicht ganz frei von weltlicher Schuld waren, dass sie Schwächen hatten und Fehler machten, sie im Leben manchmal scheiterten und mit Glaubenskrisen kämpfen mussten.
Im Hinblick darauf könnten wir also sagen: „Wenn schon die Seligen und Heiligen ihre liebe Not mit dem ersten Gebot Christi ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst‘[2] hatten, wie sollten dann wir, die wir nicht von Gott auserwählt sind, ein heiligmäßiges Leben führen?“
Eine Antwort darauf zu finden, ist nicht gerade einfach, aber ich möchte es dennoch versuchen: Die Kenntnis, dass etwa der Apostel und erste Papst Simon Petrus gegen die körperlichen Versuchungen zu kämpfen hatte, und der heilige Franz von Assisi ein egoistisches, verschwenderisches Leben führte, bevor er zum Dienst am Nächsten und zur Armut bekehrt wurde, oder Mutter Teresa, aufgrund ihrer jahrzehnlangen Erfahrungen in den Elendsvierteln von Kalkutta, mit der Liebe Gottes haderte, soll für uns keine Ausrede sein, nach der Art: „Wenn schon die Seligen und Heiligen daran scheitern, Gottes Wort immer und überall zu erfüllen, wie sollte ich es dann schaffen?“
Nein, diesen Hemmschuh dürfen wir uns nicht anziehen!
Das Vorbild der Seligen und Heiligen liegt nämlich nicht nur im Gelingen ihrer Berufung, sondern auch in deren gelegentlichem Scheitern sowie dem Mut zum Neubeginn ihrer innigen Liebesbeziehung mit Gott, der stets verzeiht und tröstet, wenn er etwa durch Jesus Christus sagt: „… im Himmel wird mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben, umzukehren.“[3]
Aber was bedeutet das nun für uns, die wir keine Heiligen sind, keine Berufenen, sondern Menschen des Alltags? Wir hören ja nicht Gottes Stimme in uns, spüren nicht seine ständige Gegenwart und fühlen uns nicht berufen zur Arbeit in seinem Weinberg! Wir sind nur Menschen mit Problemen und Kümmernissen, Zweifeln und Befürchtungen; wir sind Teil einer aufgeklärten, wissenschaftlichen und rationalen Welt geworden, die Gott allenfalls in der Position eines Platzhalters sieht, aber nicht mehr!
Die unverbrüchliche Beziehung der Seligen und Heiligen zu Gott kann also durchaus einschüchternd auf uns wirken, weil ihre Zeichen der Nächstenliebe trotz des allzu Menschlichen in ihren eigenen Leben so groß und deutlich vor uns stehen, während wir uns eingestehen müssen, keine Heiligen zu sein.
Aber das macht nichts! Gott hat nur Wenige dazu auserwählt, aber alle hat er als Menschen geschaffen, und er kennt unseren Schwächen und Laster, die er verzeiht.
Wir dürfen nur nicht aufhören, Gutes zu wollen und Gutes zu tun, weil wir an den großen Vorgaben der großen Vorbilder scheitern! Wir sind keine Heiligen, und müssen daher auch nicht wie sie leben!
Der heilige Franz von Sales hat es folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Die großen Gelegenheiten, Gott zu dienen, sind selten. Kleine gibt es immer.“[4]
Er hätte auch sagen können, dass es Selige und Heilige selten gibt, die dazu bestimmt sind, Gott auf der Welt und den Menschen zu dienen, aber nicht jeder dazu berufen ist, sondern entsprechend seinen Lebensumständen und Anlagen Dienst tun soll.
In diesem Sinne können wir Heilige des Alltags werden, indem wir zwar keine großen Wunder vollbringen, aber dennoch kleine Zeichen der Nächstenliebe geben, indem wir einander nur freundlich begegnen oder Hilfe leisten.
So strahlt, wie das ewige Heil Gottes auf die Seligen und Heiligen, ihr leuchtendes Vorbild wiederum auf uns. Denn indem wir nicht versuchen, es ihnen gleichzutun, sondern unser eigenes Kreuz auf uns nehmen, folgen wir Jesus Christus nach[5] und heiligen uns.
Martin Kolozs, Oktober 2015
Artikelbild: pixelio.de/© Karl-Heinz-Laube [1] R. Stecher, Der Heilige Geist und das Auto, S. 102 [2] Neues Testament, Ökumenisch verantwortete Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Lukas 10,27 [3] Lukas 15,10 [4] F. v. Sales, Philothea – Anleitung zum frommen Leben [5] Vgl. Matthäus 10,38