Freitagsgebet #8: Verneinung der Sichtbarkeit

22. Dezember 2017
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Photo by Gift Habeshaw on Unsplash

Ich wünsche mir eine Kirche, in der alles darin einlädt, die Augen zu schließen, und mich dazu bewegt, mein Schauen zu beenden. Ich wünsche mir einen Glauben, der nicht mehr zeigt und keine Bilder malt über die Dinge, die kein Auge zu sehen vermag. Wer sich am Heiligen Abend in eine Kirche verirrt, wird die Stelle aus dem Lukasevangelium hören, wie Engel die Geburt eines Kindes verkünden und diese es unverzüglich SEHEN wollen. Schaut man in das griechische Original steht der Konjunktiv ἴδωμεν (lasset uns sehen). Dem zu Grunde liegt das Wort εἶδος. Platon verwendet dieses Wort um von seinem Konzept der außerweltlichen Idee zu sprechen. Aristoteles bezeichnet damit die Essenz von etwas, die sogenannte inseiende Form. Edmund Husserl wird es verwenden, um das Wesen der Dinge zu benennen. Schließlich rufen die Phänomenologen zur EIDETISCHEN Reduktion auf. Vereinfacht gesagt will diese helfen, alles, was nicht zum unmittelbaren Wesen einer Sache gehört, auszublenden. Der Pragmatiker mag nun fragen, wie man denn das unmittelbare Wesen erkennen solle. Die Antwort der Philosophen bleibt offen.
Hier beginnt die Mystik, denn sie fängt mit den Negativa an: Der mystische Blick sucht das Nicht-Schauen: εἶδος bedeutet hier, die ewige Distanz zwischen Schauendem und Geschauten aufzuheben, indem man zu aller erst einfach die Augen schließt. Schauen wird nun Präsenz, geteilte Präsenz. Es gibt keine Entfernungen mehr, Grenzen werden Schwellen. Raum verschmilzt in gefühlter Zeit abseits von messbaren Metren. Die Erzählung des neugeborenen Kindes in einer Futterkrippe mag durch zweitausend Jahre Ikonographisierung zum Markenzeichen der Nativity Story geworden sein: unverwechselbar und einzigartig. Wenn wir jedoch ehrlich sind und die historischen Rahmenbedinungen bedenken, passiert nichts Außergewöhnliches: Joan Osborne hat hier exegetische Rafinesse bewiesen und die Essenz der Sache in unsere Zeit übersetzt: What if God was one of us? Just a slob like one of us? Just a stranger on the bus? Das Fest um Weihnachten versucht so krampfhaft sichtbar zu sein. Die Lichterketten, die Krippen, die Weihnachtskarten. Weihnachten ist Visual Porn in Reinkultur. Noch nie hat sich das Unabbildbare in seiner ekstatischen Abbildungsgier so sehr selbst pervertiert. Wenige erkennen in der Geschichte rund um den Stall eine Abkehr von allen Sichtbarkeiten. Doch nicht als Unsichtbares! Denn, münzen wir Watzlawick notgedrungen um, wissen wir, und der Alltag beweist es – Nichtzeigen, also Verhüllen, ist auch eine Form des Zeigens. Um wirklich die Sichtbarkeit aufzuheben darf nicht das Einzigartige verhüllt werden, sondern alles muss gezeigt werden. Alles muss sichtbar werden. Die Grenzen des Blicks müssen aufbrechen, indem wir die Augen schließen, den Fokus entmannen. Weihnachten ist die Aufhebung der Sichtbarkeit. Gott schreit: Schaut’s, DIE GANZE WELT! Dafür müssen die Wimpern ineinander fallen. Und die Iris muss auf die schwarze Leinwand der geschlossenen Augenlieder im Restglimmer die Lichtmalerei des Lebens projizieren.  Einer ist Teil der Neun Milliarden. Gott mit uns – Emmanuel.

Titelbild: (c) pexels

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