„Wenn ich nachts träume, sehe ich das, was ich untertags wahrnehme“, erzählt Nicole. Die meisten Menschen tun das, aber was Nicole untertags wahrnimmt, sind Gespräche, Gerüche, Geräusche, Gefühle oder Geschmäcker. Sie kann zwischen Hell und Dunkel unterscheiden und manchmal auch Umrisse erkennen. Ich treffe Nicole zum Mittagessen in einer Pizzeria. Per E-Mail verabredeten wir uns, kennen einander jedoch noch nicht. So treffen wir uns vor der Eingangstür, ich stelle mich vor. Auf völlig selbstverständliche Art und Weise hängt sich Nicole bei meinem Arm ein und wir betreten gemeinsam das Restaurant. Ich suche einen kleinen Tisch für uns aus, als auch schon ein Kellner die Bestellung aufnehmen möchte. Nicole fragt, was es als Mittagsmenü gäbe, der Kellner reicht ihr die Speisekarte. Sie sagt „ich kann nicht sehen“. Der Kellner hat das aber schon nicht mehr gehört. Ich lese vor und wir bestellen beide Tagliatelle mit Salat und ein Cola. Nicole beginnt, mir von sich zu erzählen.
Als kleines Mädchen besuchte Nicole einen Integrationskindergarten in Innsbruck, gefolgt von der Blindenschule. Innsbrucks Blindenschule, die seit 1907 Kinder mit Sehbehinderungen ausbildet, betreut bis zu acht Kinder pro Klasse. „Der Unterricht läuft anders ab, als in den meisten Volksschulen, denn hier können die Schüler ja nicht von der Tafel abschreiben“, erklärt Nicole. Sie hat dort die Brailleschrift gelernt. Die nach ihrem Erfinder Louis Braille benannte Blindenschrift, besteht aus bis zu 64 Punktkombinationen die als Erhöhung am Papier mit Hilfe der Fingerspitzen ertastet werden können. Sie zu beherrschen ist eine wichtige Voraussetzung für ein selbstständiges Leben für blinde und schwer sehbehinderte Menschen. Doch nicht nur das Erlernen der Blindenschrift ist ein Bestandteil der Bildung blinder Menschen. Es gilt auch, das Gehör und die Einbeziehung aller Sinne zu schulen und die Kinder Eigenverantwortung, Mobilität und Selbstständigkeit zu lehren. Nach der Volksschule wechselte Nicole ans Innsbrucker Gymnasium Adolf-Pichler-Platz, wo sie acht Jahre lang Schülerin war. Mit Hilfe einer Stützlehrerin, die während des Unterrichts mithalf und sogar mit aufs Schilager fuhr, konnte Nicole erfolgreich die Schule besuchen und die Matura absolvieren.
Hilfe kann überfordern
Der Kellner bringt den Salat und stellt Öl und Essig auf den Tisch. Er hat immer noch nicht begriffen, dass Nicole blind ist. So nehme ich Öl, Essig und Salz und gebe es über unsere Salate. Nicole beginnt, über alltägliche Dinge zu sprechen und erzählt von der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel. Möchte Nicole in Innsbruck mit einer Straßenbahn oder einem Bus fahren, so stellt sie sich auf die für Blinde durch Rillen im Boden markierte Fläche. Im Normalfall sollte dann ein Busfahrer so stehen bleiben, dass Nicole direkt vor der vordersten Bustür steht. Er sollte die Tür dann öffnen und zu Nicole sagen, welchen Bus er fährt. „Meistens funktioniert das auch“, sagt Nicole zufrieden. „Probleme gibt es nur dann, wenn Haltestellen besonders lang sind, und viele Busse hintereinander stehenbleiben. Beim Innsbrucker Sillpark oder vor dem Landesmuseum kann das schon Schwierigkeiten bereiten“. Was für Nicole jedoch viel problematischer ist, sind Menschen, die sie mit ihrer Hilfsbereitschaft überfordern. So wird Nicole manchmal mit Gewalt in einen Bus gezerrt, oder so fest umklammert, dass sie sich losreißen muss. Oft sei die Hilfe ja gut gemeint, doch bringe sie viele blinde Menschen in Bedrängnis. Nicole ist jedoch auch sehr dankbar für die Hilfe von anderen, oft fremden Menschen. „Am besten wäre es, die Leute würden ihre Hilfe anbieten und uns auch die Möglichkeit geben, diese abzulehnen“.
Eine andere Art der Hilfe nimmt Nicole beim Zugfahren in Anspruch. Fährt sie zum Beispiel von Innsbruck nach Salzburg, organisiert sich Nicole eine Umsteigehilfe. „Das ist sehr unkompliziert“, so Nicole. „Die ÖBB haben einen zuverlässigen Service für Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Ich rufe einfach dort an und dann kommt jemand zum Bahnsteig und hilft mir“. Natürlich funktioniert auch das nicht immer reibungslos, aber Nicole weiß sich zu helfen. Einmal, als sie am Weg ins Tiroler Oberland war, funktionierte die Durchsage im Zug nicht. Woher würde sie also wissen, an welchem Bahnhof sie aussteigen müsste? Nicole telefonierte mit der ÖBB Zentrale in Wien, die wiederum nahm Kontakt mit dem Lokführer des Zuges auf in dem Nicole saß, worauf dieser persönlich die Haltestellen über den Lautsprecher ansagte. Als Nicole an ihrer Haltestelle ausstieg, hörte sie, wie ihr der Lokführer durchs geöffnete Fenster nachrief ob alles geklappt habe.
Unser Kellner bringt die Teller mit den Nudeln. Nicole fragt mich, wo der Parmesan am Tisch stehe, ich schiebe die kleine Schüssel neben Nicoles Teller. Dann erzählt sie weiter aus ihrem Alltag: immer wenn sie neue Wege gehen muss, muss sie erst genau lernen, sich richtig zu orientieren. Entweder wird Nicole dann von einer sehenden Person oder von einem blinden Menschen der den Weg schon kennt, begleitet. „Das ist manchmal mühsam, aber das gehört eben dazu. Wenn ich einkaufen gehe, dann bitte ich entweder jemanden an der Kassa mit mir einzukaufen oder betätige den Druckknopf, den es mittlerweile in manchen Geschäften gibt. Ein Leitsystem führt mich direkt zu diesem Knopf, von wo aus dann eine Einkaufhilfe mit mir den Einkauf erledigt.
An der Uni gibt es gleich mehrere Herausforderungen für Nicole. So war das Gebäude zu Beginn völlig neu für Nicole, „aber das ist es ja auch für Sehende“, sagt sie belustigt. Im Lift des Geiwi Turms sagt eine Stimme die Nummer des Stockes an, wenn sich die Türe öffnet. Täte sie dies nicht, müsste Nicole immer nachfragen. Lieber geht sie in solchen Fällen jedoch zu Fuß und zählt die Stockwerke mit. Vor jedem Seminar schickt der jeweilige Lehrveranstaltungsleiter Nicole die Unterlagen, damit sie sich zu Hause vorbereiten kann. Bekommt Nicole ein Word Dokument geschickt, ist es für sie problemlos lesbar. Bilddateien muss erst jemand für sie abtippen, damit ihr Monitor es für sie lesbar machen kann. Die Literatur, die Nicole während ihres Studiums lesen muss, lässt sie sich von der Uni Bibliothek digitalisieren, um sie dann in Brailleschrift zu lesen zu können. Die Uni Innsbruck sei dafür jedoch nicht gut geeignet, meint Nicole.
Unterstützung durch Technologie
Nicole profitiert ungemein von den technischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte. So kann sie zum Beispiel ein gewöhnliches iPhone bedienen. Der Bildschirm ist zwar stets schwarz, aber Nicole hat meistens zumindest einen Kopfhörer im Ohr. Durch Tippen auf den Bildschirm beschreibt eine Stimme wo im Menü sie sich gerade befindet oder welchen Buchstaben sie beim Tippen eines SMS gerade wählt. SMS die sie bekommt, liest die Stimme vor. Ich selbst probiere kurz damit umzugehen, scheitere jedoch sofort. Die Geschwindigkeit, mit der diese Stimme zu Nicole spricht ist zu schnell, dass ich sie verstehen könnte. Abgesehen von Nicoles Scanner, der auf Papier Geschriebenes für sie in Brailleschrift umwandelt, erzählt Nicole auch von verschiedenen Geräten wie zum Beispiel einem Ampelfinder, der sie zur nächstgelegenen Ampel mit Zebrastreifen führt.
Als wir unser Essen bezahlen möchten, zeigt mir Nicole, wie sie mit Geld umgeht. „Münzen kann man ertasten“, erklärt sie mir. Bei Geldscheinen sei das nicht so leicht sagt sie und nimmt eine Schablone zur Hilfe. Sie legt den jeweiligen Geldschein auf die Schablone. Der Rand des Scheines ist für sie auf der Schablone in Brailleschrift mit der passenden Zahl versehen. Zum Schluss erzählt mir Nicole von ihren Hobbys. In ihrer Freizeit geht Nicole schwimmen. Jeden Samstag besucht sie dazu einen USI Kurs, manchmal geht sie auch ohne Kurs ins Schwimmbad. Geht sie in große Schwimmbäder, so liebt Nicole es zu rutschen, alleine und mit ihrer Schwester. Sie liebt Vergnügungsparks und hat schon drei Mal probiert Schi zu fahren. Außerdem spielt Nicole Torball – ein Blindensport dessen Ball Glöckchen enthält um ihn zu hören. Auch Radfahren zählt zu ihren Hobbys, denn hin und wieder fährt sie mit ihrer Schwester auf einem Tandem durch die Gegend. Für Nicole ist das, was andere Menschen als Handicap bezeichnen würden, die Normalität. Auf meine Frage, ob Nicole denn niemals Angst hätte, antwortet sie selbstbewusst „Nein, ich hab‘ keine Angst. Wovor auch?“.
Bild: Ralph Aichinger / pixelio.de