"Pilgern drückt aus, dass wir noch nicht am Ziel angelangt sind und auf den Himmel hoffen"

20 Minuten Lesedauer

Eine nicht ganz alltägliche Situation. Es ist Freitag. 08:00 morgens. Ich soll bereits um diese Zeit Bischof Manfred Scheuer zu seiner Liebe zum Wandern und zu den Bergen interviewen. Kein leichtes Unterfangen, bin ich doch weder leidenschaftlicher Wanderer noch Theologe. Würden sich der Bischof und ich also schweigend gegenüber sitzen? Würde er meine Fragen zu oberflächlich und uninteressant finden? Ich hatte Glück. Trotz der frühen morgendlichen Stunde traf ich einen gut gelaunten, offenen und eloquenten Bischof am Domplatz 5 in seinem Besprechungszimmer. Möglicherweise hatte ich ja doch die richtigen Fragen gestellt. Unser Gespräch nahm mit der Zeit mehr und mehr Fahrt auf – und reichte letzten Endes von der Wildspitze bis hin zu Meister Eckhart.
Herr Bischof, was bedeutet Ihnen das Wandern in Tirol und ganz generell die Berge?
Die Liebe zu den Bergen habe ich in Oberösterreich entdeckt. Ich bin im Alter von ungefähr elf Jahren zum ersten Mal auf einen Berg gegangen. In meiner ursprünglichen Heimat gibt es ja nur Hügel. Aber das Tote Gebirge, der Traunstein oder der Schafberg haben mich in der Schulzeit vom Gymnasium weg gepackt – und eigentlich nicht mehr losgelassen.
Ich war relativ bald auch in Tirol. Mit ungefähr fünfzehn habe ich autogestoppt um nach Vent zu kommen. Dort bin ich auf die Wildspitze gegangen. Insgesamt bin ich also mit Tirol zuerst von oben her, von den Bergen her, vertraut geworden, und erst im zweiten Schritt, nach der Bischofsweihe, von den konkreten Menschen und vom Alltagsleben her.
Jetzt ist es für mich so, dass die Berge ein Ort der Distanz zum Alltag sind. Es ist für mich wichtig manchmal etwas weg vom Leben zu sein – um dann wieder näher zu kommen. Das braucht es, sonst werde ich vom Alltag gefressen, beziehungsweise die Dinge, die Sachzwänge treiben mich sonst vor sich her. Berge verbinde ich auch mit Freiheit, mit innerer Freiheit. Ich versuche einmal pro Woche zu gehen, was nicht immer möglich ist. Im Sommer ist es öfter möglich.
Es hat alles auch mit dem „Auslaufen-Lassen“ einer Woche und dem Hineingehen in die nächste Woche zu tun. Es ist fast wie ein Übergangsritus. Manchmal heißt es auch mir die Aggressionen vom Leib zu gehen, die Gedanken, die mich besetzen, auf Abstand zu bringen. Beim Gehen fällt mir natürlich oft auch etwas ein – Gedanken für eine Predigt, etwas das zu tun ist.
Was mich interessiert ist der Unterschied zwischen Wandern und Pilgern. Wie würden Sie diese Differenz beschreiben?
Beides ist ja durchaus wieder modern. Ich höre, dass bei Jüngeren das Gehen und das Wandern wieder stärker kommen als es bisher der Fall war. Ebenso ist es beim Pilgern in unterschiedlichsten Konstellationen. Ich würde es nicht so strikt voneinander trennen wollen – das Wandern, das Bergsteigen, das Pilgern.
Es hängt davon ab, ob ich ein Ziel habe. Beim Bergsteigen habe ich schon ein Ziel: Ich möchte den Gipfel erreichen. Nicht nur der Weg ist das Ziel! Das Gehen hat unterschiedliche Gründe. Manchmal ist es aus Gesundheitsgründen. Bewegung tut gut. Wenn ich nicht mehr beweglich bin, dann werde ich krank.
Das merke ich auch. Wenn ich drei Wochen nicht gehe, dann werde ich blöd (lacht). Dann ist der Kopf nicht mehr klar. Es ist auch die Freude an der Schönheit der Natur, wobei ich merke, dass es immer ein paar Stunden braucht, bis die Sinne wieder wach werden. Erst sind es viele Gedanken, die hochkommen, wenn sonst nichts auf dem Programm steht.
Es geht also um die Freude an der Schönheit, natürlich auch die Lust an der Bewegung. Auch sportlicher Ehrgeiz ist dabei. Wie viele schaffe ich noch, was nicht mehr? Ich merke schon, dass fast jeder Berg am Anfang eine Überwindung ist. Ich komme ins Schwitzen, ich muss mich erst frei atmen. Beim Pilgern ist es so: Natürlich hat das ein Ziel, ein Heiligtum. Pilgern drückt schon deutlich aus, dass wir Gast auf Erden sind, wir unterwegs sind, noch nicht am Ziel angelangt sind, auf den Himmel hoffen.

Im Interview entpuppt sich Bischof Manfred Scheuer als überaus eloquent - und als jemand, dessen Liebe zum Wandern und Bergsteigen viele Ebenen hat (Bild: Diözese Innsbruck)
Im Interview entpuppt sich Bischof Manfred Scheuer als überaus eloquent – und als jemand, dessen Liebe zum Wandern und Bergsteigen viele Ebenen hat (Bild: Diözese Innsbruck)

Natürlich gibt es gegenwärtig viele säkulare Formen des Pilgerns. Ich gehe dann, um zu mir selbst zu finden. Oder es ist ein Übergang, zum Beispiel „Ich gehe in Pension“. Es gehört einfach zur eigenen Biographie, zur Selbstfindung dazu. Ich glaube aber schon, dass diese Formen offen für das religiöse Verständnis sind. Hoffnung, Gott als Ziel des Lebens. Auch wenn es nicht immer als personaler Gott beschrieben wird.
Was beim Pilgern und vielleicht auch beim Bergesteigen dazu kommt ist, dass es ein Bußritus ist. Pilgern ist wie eine Bußwallfahrt machen. Es geht um Heilung, Reinigung und Läuterung. Es geht auch um die Überwindung von Schmerzen. Ich lerne etwas zu ertragen.
Wenn ich es religiös formuliere, ist das sofort daneben und stößt auf Unverständnis. Bei den Leistungs- und Hobbysportler ist es aber gang und gäbe. Die haben eine höhere Bußlatte als früher die religiösen Übungen (lacht).
Würden Sie sagen, dass Pilgern und Wandern ein Gegentrend sind zum heutigen Effizienz- und Leistungsdenken? Gehen ist ja „sinnlos“, ich kann damit nichts gewinnen.
Ich denke schon, dass sich etwas im Bewusstsein der Manager und von Leuten, die viel arbeiten müssen, herauskristallisiert: Es geht um eine Balance, eine Ausgeglichenheit, Work-Life-Balance. Wie bringe ich die unterschiedlichen Säulen der Identität wie Arbeit, Leiblichkeit, Gesundheit, Beziehung, Eros, Sexualität und Spiritualität so zusammen, dass ich gut lebe? Da hat es sicherlich immer auch Einseitigkeiten gegeben. Diese machen, wenn sie isoliert gelebt werden, krank und kaputt. Keiner sagt, dass Arbeit blöd ist. Eine gute Beschäftigung zu haben, gehört ja zu einem sinnerfüllten Leben dazu.
Wenn die Arbeit aber zum Götzen wird, dann gehen die Beziehungen drauf und dann gehe auch ich drauf. In diesem Sinn ist wandern, berggehen oder Skitouren-Gehen auch so etwas wie eine Unterbrechung. Es gibt dabei eine Dimension der Zweckfreiheit und der Absichtslosigkeit. Es braucht die Muße notwendigerweise, damit das andere entgiftet wird und seine zerstörerische Wirkung verliert. Das sind Dimensionen der Kontemplation.
Es ist interessant, dass viele Autoren, die ansonsten mit Gebet nichts anfangen können, auf diese Dimension hinweisen.
Einfach einmal sehen, dass es gut ist. Ich muss nicht ständig herumpfuschen, kritisieren oder nachbessern. Ich darf es auch mal sein lassen. Ich brauche die Welt nicht gleich abschaffen oder kaputtmachen.
Ich finde das Wort „absichtslos“ sehr interessant. Ich denke das kann man durchaus wieder zurückführen auf die Formulierung „Der Weg ist das Ziel“. Würden Sie sagen, dass man beim Wandern und beim Pilgern nicht mit Absicht Gott suchen soll? Man macht sich auf den Weg –  und es kann sich ereignen. Ich kann mich auch nicht mit Absicht selbst finden wollen.
Wenn ich intentional an die Sache hergehe – ich möchte mich selbst finden – dann finde ich vielleicht den inneren Schweinehund oder ein Phantombild. Das ist das selbe wie wenn ich das Leben herholen möchte. Es geht da ein interessantes Zitat von Hegel, wenn es um das sich das „Leben nehmen“ geht. Es kann heißen, dass ich mir das Leben hole, her mit dem Leben! Aber sich das Leben nehmen heißt auch Tod, durchaus auch im Sinne von Suizid. Ähnlich ist es mit Gott. Wenn ich mir Gott holen will, es erzwingen möchte, dann erreiche ich das genaue Gegenteil.
Von da her ist gehen und verweilen in der Stille eine Unterbrechung und ein notwendiger Gegenpol zum „Aktivismus“ und zum verzweckten Denken. Genauso ist es, wenn ich Gott für meine eigenen Zwecke brauche. Dann gilt das Wort von Meister Eckhart, der übrigens auch die „Warumlosigkeit“ beschrieben hat, der sich gegen des verzweckte Denken gewandt hat. Manche lieben Gott nur wie eine Kuh, wegen der Milch und des Käses. Gott gibt sich als „Dreingabe“. Er ist nicht der direkt Angezielte.
Auch wenn ich mich selbst finde, die innere Gewissheit habe, dass das mein ureigenes Leben ist, ist es nicht das direkt angestrebte Leben. Denn das wäre Narzissmus, die Suche nach ständiger Selbstbestätigung. Ich muss frei werden von den eigenen Bildern und Zwängen in Bezug auf Gott. Ich muss auch den Weg der Reinigung gehen, wie es die Mystiker nennen. Meine Bedürfnisse müssen geordnet werden. Wenn ich meinen Bedürfnissen aufsitze, bin ich unfrei. Ohne diese Unterbrechung, ohne diese Reinigung gibt es weder ein Leben, nach eine Liebe, noch eine Beziehung zu Gott!

Wie wird man das Leistungs- und Effizienzdenken beim Wandern los? (Seite 2)

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

3 Comments

  1. Liebes Alpenfeuilleton,
    Herr Scheuer mag ja privat ein liebenswerter und sympathischer Gesprächspartner sein, aber wenn ich als Redakteur einen solch mächtigen Kirchenvertreter vor mir habe, frage ich ihn sicher nicht nach belanglosem Genießen der Natur.
    Für mich als Leser weitaus interessanter wäre seine Meinung zu den Reformen von Papst Franziskus, die Beteiligung der katholischen Kirche beim Saudi Arabischen König Abdullah für interreligiösen und interkulturellen Dialog
    KAICIID in Wien, die Zusammenarbeit mit der islamischen und islamistischen Religionsgemeinschaften und die Ausgrenzung atheistischer Personen oder laizistischer Vereinigungen.
    Auch seine Meinung zum viel diskutierten Kunstwerk „Grüß Göttin“ wäre sicher interessanter als ein Geplauder über den Unterschied zwischen Wandern und Pilgern.
    Sorry Markus, aber dieser Artikel ist nicht sehr informativ und höchstens ein harmloses Geplauder und eine Wanderempfehlung für das heilige Land Tirol.

  2. Hallo Markus,
    gerade dieses Interview macht deutlich, was in der Thematik „Wandern und Pilgern“ steckt. Also für mich kein harmloses Geplauder, sondern eine Ausbreitung tiefsinniger Gedanken, die zum Weiterdenken anregen können.
    Nebenbei darf ich anmerken, dass Bischof Manfred Scheuer zu den von Michael Litzko oben angeführten Themen immer wieder Stellung genommen hat. Vieles ist im Internet nachzulesen.
    Bin froh, dass sich AFEU der „medialen Artenvielfalt“ verschrieben hat und damit die Gedankenwelt erweitert und nicht die vielzitierten und manchmal von Medien aus missbrauchten „heißen Eisen“ – verzeiht den Ausdruck – „dauerlutscht“.
    Also, Lob für AFEU und Lob für Markus!

  3. Für mich ist das auch kein „harmloses Plaudern“. Es ist durchaus legitim, auch einen „mächtigen Kirchenvertreter“ einfach mal nach seinem Zugang zur ihn umgebenden Natur zu fragen, zumal ja das Bergsteigen und Wandern in Tirol, und das Pilgern an sich in der Postmoderne einen sehr hohen Stellenwert haben. Zudem ist es ja bekannt, dass Bischof Manfred Scheuer ein begeisterter Bergsteiger und Pilger ist. Für das Alpenfeuilleton also absolut stimmig. Hat mir gut gefallen, Markus Stegmayr.

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