"Pilgern drückt aus, dass wir noch nicht am Ziel angelangt sind und auf den Himmel hoffen"

20 Minuten Lesedauer

Was würden Sie eigentlich einem Wanderer raten, der Leistungs- und Effizienzdenken hinein ins Wandern trägt?
Ich merke ja selbst auch, dass in Gefahr bin, beim Gehen die Höhenmeter und die Zeiten im Blick zu haben. Ich ärgere mich, wenn ich 5 Minuten länger brauche. Ich weiß es durchaus auch von anderen, dass Zahlen eine Rolle spielen. Das ist schon eine Kolonisierung des Bewusstseins, dass wir auch in diesem Bereich nach Statistiken, Zahlen und Effizienz suchen.
Natürlich glaube ich, dass es ein gewisses Training braucht, um zur „guten Absichtslosigkeit“ zu kommen. Wenn ich nie gehe, dann werde ich auch nicht absichtlos werden. Insofern geht es auch um ein bewusstes Training. Ich muss meinen eigenen Leib und meine Leistungsfähigkeit kennen und spüren lernen.
Beim Gehen, zumindest beim Raufgehen, ist es außerdem wichtig zu schweigen. Erstens, weil das viele Reden Kraft kostet und es das Atmen unrhythmisch macht, zum anderen aber auch weil die Ordnung, die durch das Gehen entsteht, das Freiwerden, sonst blockiert wird.
Schweigen ist für mich analog zum Gehen ein Weg zur Reinigung und Läuterung. Ich halt es durchaus für gut, wenn ich mir Ziele setze, was Geschwindigkeit und Anstrengung anbelangt. Es geht auch darum, die Grenzen zu dynamisieren. Es geht um körperliche Fitness, die sich auch stark auf das seelische Befinden auswirkt.

Ein nachdenklicher Mensch, mit einem Hang zur Mystik: Manfred Scheuer (Bild: Diözese Innsbruck)
Ein nachdenklicher Mensch, mit einem Hang zur Mystik: Manfred Scheuer (Bild: Diözese Innsbruck)

Ich möchte also nicht das Leistungs- und Effizienzdenken gegen die „gute Absichtslosigkeit“ ausspielen. Ich weiß, dass der Aufstieg die Voraussetzung für das Lustgefühl ist. Es ist ein großer Unterschied, ob ich mit der Seilbahn hinauffahre, oder mich hinaufplage. Insofern im gute Sinne Anstrengung, Leistung und Arbeit: Ja.
Wichtig sind beim Meditieren und beim Gehen die Pausen. Am Gipfel möchte ich bleiben und nicht sofort wieder hinunter gehen. Beim mir selbst ist es wichtig, ohne Zeitplan und Zeitdruck zu gehen. Es ist ähnlich wie Urlaub. Ich brauche da auch zwei bis drei Wochen ohne Termine, ohne Druck, um mich richtig erholen zu können.
Was ich noch interessant finde ist, dass sich der Blick ja verengt, wenn ich eine Absicht verfolge. Wenn ich keine Absicht habe, dann kann ich besser wahrnehmen – die Natur, Gott, die Schönheit.
Bei mir ist beim Bergsteigen beides wichtig. Ich möchte durchaus die Schönheit der Blumen am Wegrand sehen. Auf der anderen Seite möchte ich aber auch den Horizont haben, eine gewisse Liebe zum Detail. Der einzelne Griff, Schritt für Schritt. Ich kann nicht mit dem großen Schritt und dem „Ho-Ruck“ alles packen. Ich möchte auch die Höhen- und Tiefenlinien meines Lebens anschauen.
Das blühende Land, aber auch die Wüsten und das Karge, das in der eigenen Seelenlandschaft vorhanden ist. Beides braucht es. Beides setzt sich in gewisser Hinsicht auch voraus. Ich möchte Aufgaben manchmal mit vollem Engagement angehen, mich voll darauf einlassen, mich manchmal auch überfordern lassen. Dann kommt manchmal aber auch die Frage, was das mit mir anstellt.
Es geht beim Berggehen auch um Reflexion, um Selbsterkenntnis. Bei allen geistlichen Wegen ist es entscheidend, zum Beispiel bei den Wüstenvätern, dass es eine klare Selbsterkenntnis braucht im Angesichte Gottes. Das ist der klare Unterschied zu den reinen „Selbstfindlingen“ (lacht). Selbsterkenntnis heißt das Erkennen von eigenen Talenten, Charismen, der eigenen Vitalität und des Korrekturbedarfs in dieser Hinsicht.
Berggehen ist eine Erfahrung der Begrenztheit, manchmal auch das Klein-Seins. Nur nach den Sternen greifen kann man da nicht. Auf der anderen Seite gibt es auch die Erfahrung, dass das Leben schön ist. Eine Landschaft kann faszinierend sein. Das ist der Unterschied zu denen, die das Leben nur als Sisyphos-Arbeit verstehen. Es geht um Schönheit, Gelingen, Kontigenz, Endlichkeit, Gelingen.
Mir kam das auch deshalb in den Sinn, weil es ja ähnliche „Wanderer-Konzepte“ im Taoismus gibt. Ich werde „Ich-Los“, verliere mich selbst im Weg.
Es gibt einen Unterschied zwischen einer Mystik, die christlich und personal denkt und einer Mystik, die einer Einheitsmystik anhängt, also neuplatonische Strömungen, Buddhismus usw. Dort gibt es kein positives Verständnis von „Ich“, „Person“ oder „Selbst“. Das „Lassen“ ist überall. Gerade die Gelassenheit seiner selbst ist bei Meister Eckhart ja eine ganz zentrale Sache. Es betrifft Dinge, es betrifft das Haben, es betrifft das Wollen. Es betrifft Gott selbst. Das Lassen ist hier im Sinne von arm und frei werden zu verstehen.
Das betrifft alle Wege – ob im westlichen oder im fernöstlichen Denken, ob christlich geprägt oder nicht. Die Frage ist aber: Gibt es so etwas wie beim Namen gerufen werden? In der Seele angerührt sein? Von Angesicht zu Angesicht angesprochen sein? Das glaube ich ist stärker in der christlichen Tradition zu finden. Antlitz, Gesicht, Name.
Beim Bergsteigen erlebe ich es so, dass es Freundschaften und Beziehungen stärkt. Das gemeinsame Gehen, der gemeinsame Rhythmus, das aufeinander achten, das Tempo aufeinander abstimmen. Essen, singen, beten. Bergsteigen ist freundschafts- und beziehungsstiftend.
Zum Abschluss noch: Was sind Wanderrouten und Berge in Tirol, bei denen Sie am meisten Ruhe finden? Wo finden Sie die beschriebene Ruhe und Unterbrechung zum Alltag?
Es geht mir nicht immer um die Ruhe und die Unterbrechung. Ich versuche einfach zu gehen, auch wenn es regnet. Zum Beispiel war der Wetterbericht letzten Montag ziemlich scheußlich. Aber dennoch sind wir drei bis vier Stunden gegangen, trotz Regen. Wir waren am Gipfel! Ich versuche also in einer gewissen Unabhängigkeit vom Wetter zu gehen.
Im Herbst ist natürlich das Karwendel wunderschön. Auch in Osttirol gehe ich gerne wandern.
Herr Bischof, vielen Dank für das Gespräch!

Titelbild: Diözese Innsbruck

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

3 Comments

  1. Liebes Alpenfeuilleton,
    Herr Scheuer mag ja privat ein liebenswerter und sympathischer Gesprächspartner sein, aber wenn ich als Redakteur einen solch mächtigen Kirchenvertreter vor mir habe, frage ich ihn sicher nicht nach belanglosem Genießen der Natur.
    Für mich als Leser weitaus interessanter wäre seine Meinung zu den Reformen von Papst Franziskus, die Beteiligung der katholischen Kirche beim Saudi Arabischen König Abdullah für interreligiösen und interkulturellen Dialog
    KAICIID in Wien, die Zusammenarbeit mit der islamischen und islamistischen Religionsgemeinschaften und die Ausgrenzung atheistischer Personen oder laizistischer Vereinigungen.
    Auch seine Meinung zum viel diskutierten Kunstwerk „Grüß Göttin“ wäre sicher interessanter als ein Geplauder über den Unterschied zwischen Wandern und Pilgern.
    Sorry Markus, aber dieser Artikel ist nicht sehr informativ und höchstens ein harmloses Geplauder und eine Wanderempfehlung für das heilige Land Tirol.

  2. Hallo Markus,
    gerade dieses Interview macht deutlich, was in der Thematik „Wandern und Pilgern“ steckt. Also für mich kein harmloses Geplauder, sondern eine Ausbreitung tiefsinniger Gedanken, die zum Weiterdenken anregen können.
    Nebenbei darf ich anmerken, dass Bischof Manfred Scheuer zu den von Michael Litzko oben angeführten Themen immer wieder Stellung genommen hat. Vieles ist im Internet nachzulesen.
    Bin froh, dass sich AFEU der „medialen Artenvielfalt“ verschrieben hat und damit die Gedankenwelt erweitert und nicht die vielzitierten und manchmal von Medien aus missbrauchten „heißen Eisen“ – verzeiht den Ausdruck – „dauerlutscht“.
    Also, Lob für AFEU und Lob für Markus!

  3. Für mich ist das auch kein „harmloses Plaudern“. Es ist durchaus legitim, auch einen „mächtigen Kirchenvertreter“ einfach mal nach seinem Zugang zur ihn umgebenden Natur zu fragen, zumal ja das Bergsteigen und Wandern in Tirol, und das Pilgern an sich in der Postmoderne einen sehr hohen Stellenwert haben. Zudem ist es ja bekannt, dass Bischof Manfred Scheuer ein begeisterter Bergsteiger und Pilger ist. Für das Alpenfeuilleton also absolut stimmig. Hat mir gut gefallen, Markus Stegmayr.

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