Professor Alfred Doppler ist hundert Jahre alt geworden. Tatsächlich. Kein Konjunktiv (wäre heute…). Nein! Hundert Jahre.
Aus welchem Anlass eine Festschrift erschien, wie sich’s gehört. Den solcherart angestimmten Jubel möchte ich gewiss nicht stören, ganz im Gegenteil – auch ich war seinerzeit begeistert vom Herrn Professor, es ging ja kaum anders, wenn man ihn live erlebte in seinen Vorlesungen. Er kam 1971 nach Innsbruck, als ich eben erst begonnen hatte, Germanistik zu studieren. Wir waren beide also Anfänger, in einem gewissen Sinne. Das war mir damals aber nicht bewusst. Der Schwerpunkt seiner Vorlesungen wie auch seiner Forschung lag auf österreichischer Literatur, vor allem jener aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und aus dem frühen 20. Jahrhundert. Wenn er über Hugo von Hoffmansthal sprach, oder über Trakl – das war schon beeindruckend, mitreißend geradezu! Und wenn ich sage, dass ich mich später von diesem Enthusiasmus entfernt habe, kritisch geworden bin, weniger ihm selbst gegenüber als vielmehr grundsätzlich gegenüber der Germanistik, der Literaturwissenschaft – wenn ich das sage, so kommt ihm immer noch das Verdienst zu, solche Kritik ermöglicht, ja sogar angestiftet zu haben.
Zunächst aber noch eine andere Anmerkung, ihrerseits einigermaßen ernüchternd: Der Liste der von Professor Doppler betreuten Dissertationen am Ende der Festschrift entnehme ich, dass eine Kommilitonin von damals ihre Doktorarbeit erst 1983 abgeschlossen hat. Ihr Leid pflegte sie mir nämlich schon 1973 oder 1974 zu klagen. Zu jener Zeit saßen wir des öfteren in der Mensa beisammen, manchmal trafen wir uns auch im Katzung. Sie kam aus Südtirol, war deshalb gezwungen zu dissertieren, weil der österreichische Magister in Italien nicht anerkannt wurde. So geriet sie in die Fänge von Professor Doppler. Der erwies sich nicht gerade als angenehmer Doktorvater, niemals zufrieden, verlangte immer neue Änderungen und Zusätze. Meine Kollegin war oft genug den Tränen nahe. Zwar nehme ich nicht an, sie habe fast zehn Jahre lang ausschließlich an ihrer Doktorarbeit geschrieben; eher heiratete sie inzwischen – sie betrachtete sich damals schon als verlobt –, vielleicht begann sie auch zu arbeiten. Aber trotzdem: zehn Jahre! Was für ein Elend! Akademisches Elend.
Doch fand ich in besagter Festschrift noch etwas: Da schreibt ein gewisser Josef Bernhard nämlich über „Metaphysik im Wienerwald“. Ein alter Germanistik- und Doppler-Student weiß sofort, wer oder was gemeint ist: Ödön von Horváth natürlich und sein fast gleichnamiges Stück. Und dabei geht’s ebenso natürlich um die Sprache, genauer: um deren Abwesenheit, um die Stille. Es geht, um’s kurz zu machen, wieder einmal um die von Germanisten so heiß geliebte Pause bei Horváth.
„Das oft in großen Gefühlen verkitschte Geplapper der Figuren“, schreibt Josef Bernhard des weiteren, „komponiert in der Tonart des Bildungsjargons…“
Fast hätte ich einen Freudenschrei ausgestoßen, als ich das las, wie wenn man einen alten Freund trifft, den man Jahrzehnte nicht gesehen hat. Die Formulierung gibt nämlich eine jener germanistischen Binsenweisheiten wieder, welche wir im Schlaf hätten herunter beten können. Nur sind inzwischen fast fünfzig Jahre vergangen – ein halbes Jahrhundert! Ich kann natürlich nicht für andere sprechen, aber ich persönlich hab’ in dieser Zeit doch die eine oder andere Erfahrung gemacht. Zum Beispiel diese hier, in einem boat train von Victoria Station nach Folkestone:
Nicht weit von mir sitzen zwei Frauen, Mutter und Tochter, wie ich annehme, ganz unüberhörbar aus Innsbruck. Die jüngere weint und schluchzt herzzerreißend. Dazwischen hervorgepresste Satzbrocken – es geht um Liebe, wie ich mitbekomme, um einen Mann, den sie in England zurücklässt. Die üblichen Phrasen des Trostes, der Beruhigung: Jeder muss seinen Weg gehen. Wer weiß, wozu’s gut ist.
Die Phrasen sind so banal, dass ich mich innerlich winde. Aufgrund meiner germanistischen Schulung hätte ich annehmen sollen, dass da gar keine echten Gefühle zum Ausdruck kamen. Man weiß ja, restringierter Sprachcode, Versatzstücke, die Sprachlosigkeit der Kleinbürger, Franz Xaver Kroetz. Aber der Schmerz dieser Frau war eindeutig echt, ganz und gar unübersehbar. Wahrscheinlich war er stärker und ehrlicher als meiner gewesen wäre, in derselben Lage, und zwar gerade deshalb, weil ich sofort einen gebildeten Dialog mit mir selbst begonnen hätte. Alles schon einmal gelesen! Ganz zu schweigen von den psychologischen Requisiten, die wir so nebenbei hatten mitgehen lassen, und die uns in Extremsituationen genau so mechanisch über die Lippen kamen wie der Frau da ihre abgedroschenen Phrasen. Lehrstück für einen Germanisten: Wenn sich jemand nicht so ausdrücken kann wie eine feine Dame im Theaterfoyer, dann heißt das noch lange nicht, er oder sie könne nicht fühlen, nicht erleben. Snobistische Oberschichtspräpotenz.
Man kann natürlich darüber diskutieren, ob konkrete Erfahrung überhaupt eine Rolle spielen soll im literaturwissenschaftlichen Diskurs. Ob Literatur nicht rein ästhetisch zu lesen sei. Ich kann da nicht mitreden. Für mich hat Literatur einen Bezug zur Wirklichkeit, sagt uns etwas über Menschen, über die Art, wie sie miteinander umgehen – oder aber es handelt sich nicht um Literatur. Auf keinen Fall um lesenswerte. Ausnahme: vereinzelte avantgardistische Werke wie zum Beispiel die „Karawane“ von Hugo Ball. Vielleicht spielte sie deshalb eine so prominente Rolle in der einschlägigen Vorlesung von Professor Doppler. Wenn er das Gedicht vortrug – ein Ereignis, eine Sternstunde!
Als ich die Uni hinter mir gelassen hatte, erlegte ich mir so was wie asketische Exerzitien auf: die Literaturwissenschaft aus meinem System heraus zu schwitzen, bis ich wieder zum neugierigen, staunenden, lernenden Lesen früherer Tage zurückgekehrt war. Oder mich zumindest angenähert hatte. Dankbar darf ich feststellen, dass es mir gelang.
Was die Germanistik betrifft – na ja. Ich glaube, es war Hans Weigel, der einmal gesagt hat: „Die Germanistik verhält sich zur Literatur so wie die Gynäkologie zur Liebe.“
Wolfgang Hackl, Johann Holzner und Wolfgang Wiesmüller, Hrsg., Ein Festgeschenk: Jubiläumsschrift für Alfred Doppler zum 100. Geburtstag (Innsbruck: innsbruck university press, 2021). Die zitierte Stelle findet sich auf S. 30.
Die zitierte Passage stammt aus meinem Buch Crossings: Bekenntnisse eines österreichischen Anglophilen, Band 2 (edition inkpen, Berlin: epubli, 2016), S. 32–33. Dem Herrn Professor hab’ ich übrigens selbst ein kleines literarisches Denkmal gesetzt, und zwar in der Erzählung „Chandos“ in dem Bändchen Im Kennedyhaus (edition inkpen 2015).