Ich entschuldige mich jetzt einmal vorab für die etwas bildhafte Sprache, mit der ich heute eine Dynamik beschreiben möchte.
Kennen Sie diesen Zustand, in dem Sie alles in ihrem Leben „ankotzt“? Momente, in denen Sie ihren inneren Frust einfach nur noch loswerden, sich sozusagen ordentlich bei jemanden „auskotzen“ wollen? Oder haben Sie vielleicht Personen in Ihrem Umfeld, die ihre negativen Emotionen bei Ihnen abladen und sich emotional bei Ihnen „auskotzen“?
Das Phänomen des „emotionalen Entleerens“ tritt gar nicht so selten auf. Im Leben scheint es doch so einiges zu geben, worüber man sich „auskotzen“ kann. Sei es aufgrund einer Verdrossenheit über die politische oder wirtschaftliche Situation, eine Unzufriedenheit über den Ausgang des letzten Fußballspiels, einer erfahrenen Ungerechtigkeit in der Schule oder auf der Arbeit, einem Fehlverhalten des Partners oder weil ein Projekt oder eine Beziehung wieder einmal nicht wie erwartet verläuft.
Manchmal ist das Ausmaß der Aufregung nicht wirklich nachvollziehbar. Marla wartete in der prallen Sonne auf die Straßenbahn. Als diese endlich eintraf und sich die Türen öffneten, stürmte sie los. Dabei rempelte sie Herman, der gerade am Aussteigen war. Dieser fing schlagartig an seinen Unmut lautstark kundzutun: „Immer diese Idioten, die nicht warten können, bis die Leute ausgestiegen sind!“ Doch damit war sein Ärger noch lange nicht erledigt. Eine Flut an Beschimpfungen folgte, die auch nicht aufhörten, als die Straßenbahn bereits weitergefahren war. Er drehte sich zu einer Frau, die mit ihm ausgestiegen war und schimpfte weiter über die rücksichtslosen jungen Menschen dieser Generation. (*)
Ereifert sich jemand so sehr, geht es selten „nur“ um das stattgefundene Ereignis. Das jeweilige Ereignis – also das angerempelt werden – ist lediglich ein Auslöser, sozusagen ein letzter Tropfen, der das Fass der aufgestauten Emotionen zum Überlaufen bringt. Der angehäufte Frust ergießt sich über jemanden – in diesem Falle Marla, so wie jene Frau, die mit ihm ausgestiegen ist – die im Grunde gar nicht wissen, wie ihnen geschieht.
Elfriede war bei ihrer Chefin, die sie eigentlich mochte. Doch an diesem Tag hatte sie ihre Chefin wohl auf den falschen Fuß erwischt. Völlig unerwartet beschuldigte die Chefin sie für Ereignisse, für die sie nicht verantwortlich war. Anfangs stammelte Elfriede noch kleinlaut eine Entschuldigung und versuchte sich zu erklären. Doch ihre Chefin war so dermaßen in Rage, dass sie ihre Argumente einfach wegwischte und weiter auf sie einredete. Ihre Worte fühlten sich wie permanente kleine Angriffe an. Elfriede war nicht darauf vorbereitet. Sie wurde überrumpelt, war wehrlos und konnte nur noch schweigen und das Donnerwetter über sich ergehen lassen.
Der emotionale Guss kommt überraschend und die damit einhergehende Heftigkeit ist für den Begossenen meist nicht nachvollziehbar.
Ein unangenehmer Gefühlsstau
Ähnlich wie bei einem Gewitter entladen sich in solchen Momenten die dunklen Gefühlswolken. Auch wenn diese Gefühlsentladung für das Umfeld unerwartet und wie aus heiterem Himmel erscheint, ist dem nicht so. Tatsächlich muss jener, der sich „auskotzt“ einiges dazu beitragen, dass sich seine Gefühle so dermaßen auftürmen.
Um einen Gefühlsstau zu produzieren, müssen wir unsere Gefühle erst einmal unterdrücken. Den Ärger schlucken, die Frustration oder Verletzung verbergen, die Hilflosigkeit, Ohnmacht oder Verzweiflung wegstecken. Da wir selten positive Gefühle unterdrücken, stauen sich bei den meisten nur die negativen Gefühle auf.
Zu unserem Leidwesen lösen sich die unterdrückten Gefühle aber nicht in Luft auf. Im Grundewerden sie nur unterdrückt und weggedrückt und sammeln sich in unserem Unterbewusstsein, sozusagen im Untergrund der Psyche oder im psychischen Keller. Mit der Zeit stapeln sich dort die abgewehrten Gefühle von Frustration, Einsamkeit, Schmerz, Hilflosigkeit, Angst, Ärger oder Wut. Da wir diese Gefühle auch weiterhin unterdrücken, wird es sozusagen zunehmend voller in unserem psychischen Keller. Wenn wir das so betrachten, erscheint es fast ein wenig naiv zu glauben, dass diese Unterdrückung keine Auswirkung auf uns haben sollte.
Irgendwann sitzen wir dann nämlich auf einem negativen Gefühlshaufen und was machen wir dann? Können wir nicht gut mit negativen Gefühlen umgehen – was vermutlich der Fall ist, weil wir sie ansonsten nicht unterdrücken müssten – warum sollten wir dann mit einem ganzen Haufen davon, besser umgehen können?
So sammeln sich immer mehr negative Gefühle an und wir geraten unter Druck. Die abgewehrten Gefühle drängen zunehmend an die Oberfläche. Irgendwann ist der Punkt erreicht – also jener kleine Auslöser, wie das angerempelt werden – wo wir endlich den negativen Gefühlshaufen loswerden können. Es kommt zu einem schwallartigen „emotionalen Auskotzen“. Eine Flut an negativen Emotionen einhergehend mit Vorwürfen, Beleidigungen oder Angriffen, ergießt sich über jene Person, die das Pech hat, gerade anwesend zu sein.
Eine erste Erleichterung tritt ein
Jetzt hat das „emotionale Auskotzen“ eine durchaus angenehme Wirkung, zumindest für jenen, der sich „auskotzt“. Wurde der negative Gefühlsstau nach außen abgegeben, ist er erst einmal weg und das fühlt sich durchaus gut an.
Susi war erleichtert. Sie hatte ihren ganzen Frust über die Männer bei ihrer Freundin Alexa abgeladen. Ausführlich ereiferte sie sich über die Ungerechtigkeit, dass jeder – außer ihr – eine Beziehung hatte. Jetzt, fast eine Stunde später, ging es ihr wieder um einiges besser.
Auf den ersten Blick scheint diese Strategie also durchaus hilfreich zu sein. Rasch zeigt sich jedoch, dass diese Form der Emotionsregulierung auch ihre Schattenseiten hat. Die eigenen negativen Emotionen werden bei einer anderen Person abgeladen, welche nun mit einem negativen Gefühlshaufen konfrontiert wird, der ihr im Grunde nicht gehört. Dem „emotionalen Kotzer“ geht es besser, dem „Angekotzten“ aber nicht!
Wie ein begossener Pudel saß Alexa neben ihr. Susis negative Stimmung sowie ihre permanenten Angriffe und Vorwürfe – weil Alexa ja keine Ahnung von ihren Nöten hatte und zu den privilegierten Feinden gehörte, die einen Freund hatte – machten Alexa ziemlich zu schaffen.
Das „emotionale Auskotzen“ schadet aber nicht nur den Anderen. Es verhindert auch, dass wir in Bewegung kommen und anstehende Veränderungen angehen. Mit dem „Auskotzen“ verliert sich nämlich die hilfreiche Seite der negativen Emotion. In gewisser Weise unterstützten uns negative Emotionen auch darin, notwendige Veränderungen anzustreben und umzusetzen. Wenn es uns gut geht, warum sollten wir etwas verändern? Wenn es uns schlecht geht, warum sollten wir nichts an dieser Situation verändern?
Weil wir ein wenig Dampf ablassen können, mag das „emotionale Auskotzen“ fürs Erste helfen. Der Druck löst sich und das eigene Leiden wird wieder ein wenig erträglicher und aushaltbarer. (siehe auch: Das Leiden mit dem Leiden). Da es uns nun aber wieder bessergeht, besteht kein Bedarf mehr die Dinge, die uns belastet haben, zu verändern.
Eine wirkliche Veränderung wird nicht angestrebt
Menschen, die sich auskotzen, ändern oftmals nichts an ihrem Verhalten oder an ihrer Lebenssituation. Sie leiden unter der Politik, unter ihrer Arbeit oder ihren Beziehungen, doch sie ändern nichts. Folglich ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich ein neuerliches „Auskotzen“ anbahnt.
Für mich ist es immer wieder spannend zu beobachten, wie unterschiedlich wir mit körperlichen Symptomen im Vergleich zu psychischen Symptomen umgehen. Kommt es zu einem körperlichen Erbrechen, verlang wohl niemand, dass jene Person die gerade anwesend ist, das Erbrochenes auffängt oder gar beseitigt. Üblicherweise erforschen wir den Grund des Unwohlseins und versuchen diesen zukünftig zu vermieden. Wird mir beispielsweise immer schlecht, wenn ich einen Apfel esse, werde ich vermutlich keine Äpfel mehr essen.
Psychisch verhalten wir uns gerne anders. Da neigen wir – fast ein wenig stoisch – dazu, immer wieder das Gleiche zu machen. Egal wie ungünstig ein Verhalten für uns ist, wir machen einfach weiter. Wer sich ständig auskotzt, ohne etwas in seinem Leben zu verändern, dem wird wohl auch weiterhin emotional übel werden.
Eine kurzfristige Lösung mit Schattenseiten
„Kotzt“ sich jemand in nahen Beziehungen aus, lässt sich zuerst oft ein Unterstützer finden.
Am Anfang war Alexa noch sehr motiviert, Susi zu helfen. Sie hatte Verständnis und hörte zu. In den schlimmen Phasen war sie Tag und Nacht für Susi erreichbar, gab ihr Tipps und unterstützte sie, wo sie nur konnte. Doch die Typen, von denen sich Susi angezogen fühlte, waren sehr eigen und ihre Art von Beziehungen ebenfalls. Immer wieder geriet sie an dieselben Männertypen und die Geschichten wiederholten sich. Lernte sie einen Mann kennen, war sie begeistert und wollte nichts von Alexas Warnungen wissen, die in Susis Augen ja nur neidisch war, dass Alexa endlich jemanden gefunden hatte. Kaum war es wieder vorbei, wiederholte sich das Elend. Über die Jahre hinweg war Alexa müde geworden und hatte den Eindruck gewonnen, dass gar keine wahre Freundschaft zwischen ihnen existierte. Kaum jemals ging es um sie oder um ihre Belange, die Gespräche kreisten ständig nur um Susis Männerthemen.
Wiederholt sich das „Auskotzen“, ohne dass eine Veränderung eintritt, verliert sich das Verständnis der Unterstützer. Eine Freundin, die ständig jammert und scheinbar nur Pech mit den Männern hat, ein Partner, der immer dieselben Probleme auf der Arbeit hat oder eine Mutter, die laufend unter dem Vater leidet ohne sich jemals zu trennen, lassen den helfenden Elan schwinden.
Der Stillstand, der sich beim „emotionalen Kotzer“ einstellt, gründet in der gewählten Strategie. Denn das „emotionale Auskotzen“ stellt bereits den Lösungsversuch dar. Es wird zwar gelitten, gejammert und geschimpft, doch damit ist die Sache dann auch wieder erledigt.
Hermann schimpfte nicht nur nach der Straßenbahngeschichte. Fast schien es ein Hobby von ihm zu sein. Im Urlaub war es ihm zu heiß, das Hotel war zu voll, die Gäste zu laut, die Autofahrer waren unzivilisierte Rowdies, die heutigen Kinder unverschämt und vieles mehr. Der klassische „emotionale Kotzer“ sucht keine Lösung seiner Probleme, sondern nur eine emotionale Entlastung. Seine Frau Hiltrud hatte am Anfang ihrer Beziehung noch versucht, ihn zu beruhigen, doch mit der Zeit erkannte sie, dass dies ein sinnloses Unterfangen war. Mittlerweile ließ sie ihn einfach schimpfen und ignorierte ihn.
Da niemand auf Dauer „emotional angekotzt“ werden mag, ziehen sich Familienmitglieder, Partner, Freunde oder Bekannte zusehend zurück. Hiltrud hörte ihrem Mann nicht mehr zu und Alexa wollte sich nicht mehr mit Susi treffen. Aber keine Sorge, auch über diese Ungerechtigkeit kann man sich wieder bei jemanden „auskotzen“. Susi war gekränkt, dass sich Alexa nicht mehr um sie kümmerte und lästerte bei ihrem neuen Freund über die abtrünnige Freundin. Und Hermann schimpfte am Stammtisch über seine Frau, die so gefühlskalt geworden war.
Fazit
Sich ab und an emotional ein wenig zu erleichtern ist durchaus eine Strategie, die wir in Betracht ziehen können. Doch nutzen wir das „emotionale Auskotzen“ lediglich, um eine emotionale Stabilisierung zu erreichen und um dann wieder wie gehabt weiterzumachen, erschweren wir nicht nur unser Leben, sondern auch jenes unserer Mitmenschen.
(*) Alle Beispiele, beschreiben gewisse Dynamiken und Strukturen. Die Namen sind fiktiv und wurden nur für einen leichteren Lesefluss hinzugefügt.