Historische Gipfeltreffen in filmreifen Kulissen allerorten. G7, EU, NATO. Und alle behaupten, hier werde Geschichte geschrieben. Heraus kommt jedoch, neben Tourismus-Werbung und Demos samt Polizei-Großaufgebot, immer das Erwartbare.
Der einzig wichtige Gipfel, der zur Sprache brachte, was die anderen verschwiegen, fand wieder einmal, kaum bewacht und noch weniger beachtet, in München statt: Der Alternativgipfel zur G7-Konferenz. Julia Thrul formulierte dort den Kernsatz: Man müsste zuerst einmal den Mut haben, sich eine anders verfasste Welt vorzustellen. — Eine schöne Abwandlung von Kants Aufklärungs-Regel, man müsse den Mut haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Doch mit Mut und Verstand allein, das haben die Jahrhunderte seit Kant gezeigt, ist es leider nicht getan. Es braucht dazu auch noch viel kreative Vorstellungskraft — Möglichkeitssinn hat es Musil genannt –, d.h. die fälschlicherweise als „naiv“ abgewertete, unvoreingenommene Überprüfung des Bestehenden (des sogenannten „Alternativlosen“) und zu dieser Naivität zusätzlich die Fantasie, dass es auch ganz anders sein könnte. Und landen wir da nicht immer bei der Kunst, insbesondere der Literatur?
Was wir in unserer von multiplen Krisen heimgesuchten Welt jetzt dringend bräuchten, wäre ein kreativer Gipfelsturm, mit Geschichten, die uns erzählen, wie es anders gehen könnte — neue Narrative, würde es der Fachjargon nennen, weil das seriöser klingt als „Romane“.
Die religiösen Mythen waren ehedem die Narrative, welche die Welt grundlegend veränderten. Später dann die Heldenepen, die lange nachwirkten, auch noch nachdem der vorstellungsmächtige Cervantes das Helden-Narrativ längst beerdigt hatte. Danach die bürgerlichen Romane, welche vom Befreiungskampf des Bürgers / des Arbeiters / der Frau / usw. aus der Knechtung ungerechter Herrschaftszustände erzählten. Oder die Science Fiction, welche technische Erfindungen vorweg nahm, ja, Wissenschafter und Techniker erst auf die Idee brachte, das nie Dagewesene zu erdenken. Oft war es also die „schöne Literatur“, welche das Denkunmögliche denkbar werden ließ.
Und womit haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigt? Anstatt große Romane zu lesen, haben wir unsere Fantasie von Spin-Doktoren und Werbefritzen im Dienste des Ewiggestrigen abtöten lassen. Dabei waren deren Erzählungen vom Immer-Mehr-Immer-Besser auch nur frei erfundene Gschichtln. Da denken wir uns doch besser unsere eigenen aus, die uns wirklich guttun, oder? Also, liebe Leser und Leserinnen, lest wieder Belletristik, was das Zeug hält! Und ihr, liebe Medienmacher und Journalistinnen, kürzt die oft inhaltsleeren Wirtschafts- und Politseiten auf ihr angemessenes Gewicht zurück, das schafft wieder Raum für die Wahrnehmung von Kunst und Kultur! Und ihr, liebe Literaten und Autorinnen erfindet fantasievoll viele neue Geschichten! Für den nächsten Alternativ-Gipfel!