Als alte Pazifistin müsste ich mich über große Friedensdemos wie gestern in Berlin freuen.
Immerhin bin ich schon vor über fünfzig Jahren mit Peace-Anhänger an der Halskette herumgelaufen und habe in heimischen Parks und auf römischen Treppen Lieder gegen den Vietnamkrieg gesungen. Hat mir ein gutes Gefühl gegeben damals. Nützte halt nicht wirklich.
Gestern also dieser große „#Aufstand für den Frieden“ in Berlin mit geschätzten 100.000 Teilnehmern. Die Demo beweist immerhin einen gesellschaftlichen Wandel seit 1945: Die Mehrzahl der Menschen in Europa hält Krieg nicht mehr für etwas Natürliches oder gar Erhebendes. Man wirft nun lieber seine mediale und Wirtschaftskraft in die Schlacht statt Soldaten. Aber ist es so einfach, wie Sahra und Alice es proklamieren? Oder singen auch sie bloß schöne Lieder im Park? Jedenfalls bezeichnete sich Alice nach der Demo in einem Interview als „total glücklich“ über den „großen Erfolg“. Worin besteht dieser Erfolg? Dass ihr hunderttausend Leute applaudierten? Zu zeigen: Man darf hier ungestraft sagen und tun, was in Russland und in einer von Russland eroberten Ukraine in einem sibirischen Straflager enden würde? Was aber ändert eine zahlenmäßig gut besuchte Demo am Kriegsverlauf?
Schauen wir uns die mitgeführten Transparente an: “Peace & Love“ auf Regenbogen mit Blümchen, das hatten wir schon vor 50 Jahren. Blau-gelbe Flaggen und Herzchen und Friedenstauben finden sich derzeit sowieso überall, das ist noch kein Aufstand. „Wer Frieden will, verkauft/verschenkt/produziert keine Waffen!“ – das ist immerhin ein etwas konkreterer Slogan. Allerdings müssten sich dann alle Seiten daran halten, doch Russland kündigt gerade sämtliche Waffenverträge auf. Ein Transparent „Nicht unser Krieg“ zeigt allerdings auch eine gewisse Wahrnehmungsverzerrung bei manchen Teilnehmern. Und „Stop Russian Aggression“ und „Stop Putin“ sind schöne Ansagen, doch nachdem Putin nicht anwesend war, ließ er sich von noch so vielen Demonstranten auch nicht stoppen. Dafür hätten die 100.000 schon nach Moskau marschieren müssen.
Und natürlich tauchte immer wieder der gute und ewig gültige Slogan in der Menge auf: „Frieden schaffen ohne Waffen!“. Das Wort „schaffen“ wird dabei allerdings meist übersehen. Es steht nicht bloß um des Reimes willen da. Man muss schon etwas tun, wenn man in einem internationalen Konflikt ohne Waffen auskommen will. Und zwar meist etwas Unangenehmes. Wie wärs zum Beispiel, wenn 100.000 Deutsche vor ihrem nächsten Waschmaschinen- oder Auto- oder Computerkauf Hersteller und Händler überprüften, ob der nicht im vergangenen Jahr eine Ausfuhrsteigerung in Richtung Türkei oder Belarus zu verzeichnen hatte, von wo aus Chips und Bestandteile mit riesiger Gewinnmarge für den russischen Waffenbau weiterverkauft werden? Oder wenn die sicher bei der Demo auch anwesenden Hacker sich in russische Firmen einschlichen und die schönen Friedensslogans dort verbreiteten? Wenn 100.000 Deutsche für eine ukrainische (demnächst belarussische, moldawische) Familie das Überleben für ein Jahr sichern würden, indem sie sie als Geflüchtete aufnehmen und betreuen oder ihnen das Überlebensnotwenige in ihr Land liefern? (Wahlweise auch möglich für syrische, georgische, tschetschenische Opfer früherer russischer Aggression).
Wie wärs, wenn 100.000 Deutsche ihre Bank oder Versicherung wechselten, weil diese über Umwege immer noch gute Geschäfte mit Russland macht? Und wenn diese 100.000 Protestierenden und die mitmarschierenden Gewerkschaften ihre sämtlichen Kontakte nützten und die geballte Wirtschaftsmacht deutscher Firmen dazu drängten, um zuhause wie auch in der Türkei, im Iran, in China und in Indien einen echten Boykott und ernsthafte Friedensvermittlung zu erreichen, auch auf Kosten eigener Geschäftsverluste? Wer der Teilnehmenden würde für so hehre Ziele nicht gern seinen Arbeitsplatz opfern? Und wenn alle diese 100.000 Demonstranten bloß so viel Benzin und Gas einsparten, dass keine Kohle mehr nötig wäre und kein Frackinggas oder Gas und Öl, welches immer noch über Umwege aus Russland kommt bzw. die Exportpreise für Russlands Kriegswirtschaft hochtreibt? Und … und … und …
Das wäre ein wirklicher #Aufstand für den Frieden, ganz ohne Waffenlieferungen. Allerdings auch ohne Blümchen.