Prolog
Was bringt jedes funktionierende System aus dem Gleichgewicht? Was verursacht Stillstand, Abstieg und letztendlich das Ende? Richtig! Sättigung, Zufriedenheit und die Erhaltung des Status quo. Seit diesem Spätherbst gibt es eine Veranstaltung, die genau das verhindern will, Stillstand. What if? Eine Denk-Reise zu gar nicht absurden Zukunftsszenarien, stattgefunden, vergangenen Montag in Obergurgl/Hochgurgl. Die Themen: spannend bis provokant. Die Denker: unterhaltsam bis gewagt. Die Gäste: hochrangig, irritiert und begeistert. Aber beginnen wir von vorne.
Der Tiroler Tourismus, der Fremdenverkehr in den Alpen, funktioniert. Er funktioniert sogar so gut, dass die gesamte Szene manchmal als Tourismus-Industrie bezeichnet wird. Eine Zuschreibung, die manch einem Werber und Markenhüter so gar nicht gefällt. Abgesehen von der Namensdiskussion ist jedoch festzuhalten, dass es gut ist, dass der Tourismus im alpinen Tiroler Raum funktioniert. Immerhin ist er ein Rückgrat für die Tiroler Wirtschaft und einer der größten Arbeitgeber der Region. Es gab Zeiten, da war Tirol bettelarm, heute ist das anders. Gott und dem Fremdenverkehr sei Dank!
Systeme, egal ob funktionierende oder nicht, erhalten sich primär selbst. Ein System umzudrehen oder zu ersetzen erfordert einen Kraftakt, starken Willen und Geduld. Wenn ein System so gut funktioniert, wie der Tiroler Tourismus, braucht es besonders viel Kraft, Willen und Geduld, möchte man ihn davon abhalten, in gewohnten Bahnen weiterzulaufen. Wieso man das überhaupt möchte? Denken wir an den Anfang. Zufriedenheit, Sättigung und die Erhaltung des Status quo sorgen letztlich für den Verfall, für das Ende eines Systems. Der Schluss liegt also nahe. Bleibt der Tiroler Tourismus, der der er heute ist, wird es ihn irgendwann nicht mehr geben. Tiroler ohne Tourismus? Nicht vorstellbar! Oder eben doch?
Bei What if? wurde unter anderem genau diese Frage diskutiert. Was wäre, wenn wir den TOURISMUS abschaffen? Gemeint war damit zwar nicht der Tourismus per se, sondern der Begriff Tourismus, aber auch die Überlegung zu ersterem, war nicht weit entfernt. Wieso das gut ist? Der Tourismus im Alpenraum hat eine Sättigung erreicht. Die meisten Berge sind erschlossen. Die meisten Gebiete sind positioniert. Neue Player kommen kaum hinzu. Marktverdrängung, statt Marktwachstum. Das wissen auch die Touristiker. Deshalb werden jährlich Millionen über Millionen in neue Liftanlagen, in Infrastruktur und in Beschneiungsanlagen investiert.
Apropos Beschneinungsanlagen. Das Zukunftsszenario der schwindenden Schneesicherheit, ist eines der wenigen, das unter Touristikern diskutiert wird. Eigene Schneezentren wurden deshalb extra gegründet. Wissenschaftler forschen fieberhaft daran, wie man in Tirol, allen globalen Klimaveränderungen zum Trotz, möglichst lange weiße Pisten hat. Dieses Zukunftsszenario wird aber nur deshalb diskutiert, weil es einen konkreten Anlass und eine Absehbarkeit der Erfüllung gibt. Man war lange gesegnet, durfte mit massenhaft Schnee rechnen, bald könnte das vorbei sein. Es ist also nur logisch, dass man über Lösungen nachdenkt.
What if? Die Veranstaltung
Wieso aber beschränkt man sich im Denken auf Zukunftsszenarien, die schon so nahe sind? Wäre es nicht die Aufgabe und sogar die Verantwortung aller Beteiligten, weiter in die Zukunft zu denken? Out of the box? Außerhalb der klassischen Grenzen? Wahrscheinlich ja. Dieser Überzeugung sind zumindest die Initiatoren von What if? Für die Gestaltung und Medialisierung des Konzepts zeichnen sich die QYINT Imagemanufaktur (c/o Thomas Weninger) und pro.media kommunikation (c/o Stefan Kröll) verantwortlich. Als Location dient Obergurgl/Hochgurgl, also ein Ort, weit weg von klassischen Denkstuben, hoch oben über dem Einheitssmog. Unterstützt wird das ganze von den Partnern Audi, Raiffeisen und der Standortagentur Tirol. Wagen die Etablierten also wirklich eine Denk-Reise mit ungewissem Ausgang? Es scheint so!
Auf dem Podium, das circa zwei Stunden lang bespielt wurde, nahmen der Kulturjournalist Hanno Settele (ORF), der Zukunftsforscher Harry Gatterer (GF Zukunftsinstitut WIen und Frankfurt/Partner von Matthias Horx) und Uniprofessor Michael Lehofer (Leiter der Neuropsychiatrie und Stv. Ärtzl. Direktor am LKH Graz Süd/West) Platz. Settele fungierte als Moderator, sollte die Diskussion immer wieder antreiben, konkretisieren und all zu philosophische, gedankliche Meta-Ausflüge einfangen. Harry Gatterers Aufgabe: die Darstellung neuester wissenschaftlicher Gedankenkonstrukte und die Skizzierung gar nicht absurderer Zukunftsszenarien. Prof. Lehofers Part: die Umlegung auf die persönliche Ebene, die Einflüsse auf Individuen und deren Bedeutug.
Drei Zukunftsszenarien wurden diskutiert. Das bereits erwähnte „Was wäre, wenn wir den TOURISMUS abschaffen?“ „Was wäre, wenn jedes Baby, das auf die Welt kommt, 100 Jahre alt wird?“ und „Was wäre, wenn 3/4 der so genannten „Touristen“ nicht mehr aus dem Westen kommen?“ Im Publikum saßen circa 80 handverlesene Gäste. Darunter so gut wie alles, was in Tourismus Tirol Rang und Namen, eine Aufgabe und etwas zu sagen hat.
Fazit
Es war ein guter erster Schritt. Ein Schritt in die richtige Richtung. Tirol durfte in den letzten Jahrzehnten, begünstigt durch die Natur und den Fleiß der Menschen, einige tolle Erfolge feiern und hat sich touristisch an die Weltspitze gearbeitet. Spätestens mit den nahenden klimatischen Veränderungen und der Generation „Airbnb, Booking.com un Co“ in Lauerstellung, wird ein Umbruch kommen. Dieser Drehpunkt darf nicht verpasst werden. Deshalb ist es absolut begrüßenswert, dass hier ein neuer Denkraum geschaffen wurde, der einerseits Experten zu Wort kommen lässt und dadurch Inputs „von außen“ ermöglicht und andererseits die entscheidenden fachnahen Köpfe einbindet und anlockt.
Die erste Auflage von What if? war noch recht harmlos. Nur wenig Provokantes wurde geboten, wenig Angriffiges, wenig Aufrührerisches, wenig Revolutionäres, weniges, das wirklich weh tat. Die erste Auflage war brav und eines hat sich deutlich gezeigt, alles braucht seine Zeit. In Tirol und wohl auch anderswo gilt: „Wir müssen die Kultur des Was-wäre-wenn-Denkens erst lernen.“ Der Lernprozess ist gestartet und das ist gut. Auch bei der Wahl der Protagonisten darf zukünftig noch mehr Mut gezeigt werden. Statt besonnener, vermittelnder und wissenschaftlicher Diskutanten, dürften ruhig Vertreter der Extrempole auf der Bühne Platz nehmen. Dann würde auch Hanno Setteles selbstbewusster, fast schnippischer und fordernder Moderationsstil mehr zum Tragen kommen, wäre sinnvoller platziert.
Letztendlich wurden auf der Bühne Szenarien aufgeworfen, die zum Nach- und Weiterdenken angeregt haben. Wie schön wäre es, wenn sich daraus wirkliche Denk-Gruppen und Innoveations-Treffen ergeben würden, in denen die führenden Protagonisten des Tiroler Tourismus zusammensitzen, an bizarren Zukunftsszenarien arbeiten und bei der zweiten Auflage von What if? ihre konkreten Ergebnisse, Ideen und Pläne erläutern würden. Wenn das passieren würde, hätten wir den Tourismus, so wie wir ihn heute kennen, wirklich abgeschafft. Dann wäre plötzlich Räume offen, Potentiale frei, die zum jetzigen Zeitpunkt niemand für möglich und wünschenswert gehalten hätte. Eine schöne Vorstellung, nicht nur für Journalisten und Idealisten, auch für Touristiker mit Vision.
Impressionen
Sehr gut, sehr treffend, lieber Felix. Ich mag und schätze Deine Schreibe! Auch die Kritikpunkte unterschreibe ich und denkt bereits an What If #2!
Danke! Ich denke die Form des „Rezensionskommentars“ ist passend, um unserem Leser What if? näher zu bringen und möglichst anschaulich zu erklären. Gerade bei #1 geht es ja fast mehr um das Konzept an sich, als um konkrete Inhalte. Entgegen anderer Medien habe ich den Fokus bewusst darauf gelegt. (anderer Blickwinkel) @Kritikpunkte: Ich sehe das so … Ein gelungener Start, einer vielversprechenden Reise.