Country Musik? Muss wirklich nicht sein. Der nächste Folk-Song mit der immergleichen Akkordfolge, darüber noch ein bisschen langweiliges Zeugs über das eigene Seelenleiden gesungen und dazu ein bisschen Slide-Gitarre? Muss ich nun wirklich nicht haben. Nichts gegen Songwriter. Aber die meisten davon sollten die Gitarre schnell wieder schön säuberlich in die Ecke stellen und nie wieder einen Stift oder einen Laptop zur Hand nehmen.
Musik mag in diesem Fall Selbst-Therapie für den Musiker sein, doch was bringt es, wenn ich nach dem Anhören eines weiteren Singer-Songwriter-Albums selbst eine Therapie brauche oder zumindest 2-3 Stunden guter und interessanter Musik um mich von dem Langeweile-Schock zu erholen, der sich akut eingestellt hat als zum letzten C-Dur auf G-Dur auf A-Dur gefolgt ist?
Ich möchte aber festhalten, dass es auch anders geht. Wie eben in der hier vorgestellten „vergessenen Perle“. Und dass man sich eines bewusst werden sollte: Wer eine Gitarre angreift, darauf ein paar Akkorde klimpert und dazu auch noch singt der hat eigentlich auch schon die überaus komplexe Tradition amerikanischer und europäischer Musik ab- und aufgerufen. Ob gewollt oder ungewollt. In den Händen von Dilettanten gerät so etwas sehr schnell zu einem langweiligen Abrufen von Klischees, die blind reproduziert werden.
Die Form wird dabei erst gar nicht reflektiert, die strukturelle und harmonische Einfachheit gar nicht erst wirklich analysiert. Damit gelingt es auch nicht, aus dieser Simplizität Variationen, Neuerungen und eine mögliche Weiterentwicklung abzuleiten. Die Konsequenz daraus ist einfach beschrieben: Langeweile für den interessierten Musikhörer. Julian Lage und Chris Eldridge machen es auf Avalon anders. Und nehmen ein zugleich wahnsinnig traditionelles wie auch unglaublich zeitgenössisches Album auf.
Das Ganze tun sie natürlich im Avalon Theater in Easton, Maryland. Mehr oder weniger live in 2 Tagen von der Bühne herunter eingespielt. Ein Ort, der wirklich Geschichte atmet. Selbstverständlich tun sie das mit uralten Gitarren, die gleich einige Jahrzehnte älter sind als die beiden Musiker zusammen. Warum sie das tun? Meiner Meinung nach deshalb, weil sie an die Wurzeln gehen und von diesen ausgehend die Musikgeschichte aufrollen möchten.
Meisterlich. Gekonnt. In keinem Moment dilettantisch oder unwissend. Sondern mit unglaublicher Informiertheit, Virtuosität und Modernität. Denn Modernität wird nicht dadurch suspendiert, dass sich Musiker mit der Tradition beschäftigen. Modernität wird überhaupt erst erschaffen, indem Musiker Tradition im Heute neu und erfrischend anders interpretieren – mit dem notwendigen Respekt des Wissens, dass ihre eigene Interpretation nur ein kleiner Zeitraum in einem Überlieferungsstrang ist, der nach ihnen wieder fortgeführt wird.
So ist „Avalon“ eigentlich eine bescheidene, kleine Platte, bei welcher der Teufel im sprichwörtlichen Detail liegt. Wie Julian Lage in seinen eigenen Kompositionen die Tradition hier fortführt und weiterdenkt ist atemberaubend. Über sein Zusammenspiel mit Chris Eldridge könnte ich ins Schwärmen geraten, tue es aber nicht. Sondern rate jedem es selbst zu hören.
Ganz sachte, fast schon schüchtern fügt Lage hingegen bei den Fremdkompositionen unter denen sich so Gassenhauer wie „Someone To Watch Over Me“ befinden, einige neue Akkorde ein und zeigt, auf welchem schmalen Grad zwischen hervorragendem Song und Jazz sich dieser Song seit jeher bewegt hat. Julian Lage improvisiert nicht wirklich, aber er nimmt sich die notwendigen Freiheiten, um der reichhaltigen Harmonik des Original-Songs noch einige neue Aspekte abzuringen.
Bei einem Song, der bereits 1926 veröffentlicht wurde eigentlich keine schlechte Leistung. Zumal sowohl Sinatra als auch Fitzgerald diesen Song bereits interpretiert haben. Erstaunlich dabei ist auch, dass Chris Eldridge eigentlich im technischen Sinne kein herausragender Sänger ist. Dafür aber einer, der sich emotional so sehr auf den Song einlässt, wie es weniger vorher getan haben. Ungeschminkt. Direkt. Ungeschönt. Dazu der Klang der beiden Gitarren, die klingen wie sie eben klingen: Ganz wunderbar, aber sehr weit entfernt von einem glatten, geschönten Klang. Rau. Vielleicht auch ein wenig anachronistisch.
Ob die Platte also authentisch genannt werden kann? Keine Ahnung, aber vermutlich. Traditionell? Ja, vielleicht. Modern? Ja, ganz sicher, denn mit „Avalon“ sind zum Teil sehr alte Songs im Heute angekommen, ohne gezwungen modernisiert worden zu sein. Sprich: mit der notwendigen Demut die jemand einnimmt, der weiß, dass er nur ein kleines Mosaiksteinchen in der Musikgeschichte ist, mit der ganzen Last und Verantwortung der Geschichte des jeweiligen Songs auf dem Rücken.
Selten hat das leichtfüßiger, unbeschwerter und formbewusster als auf „Avalon“ geklungen. Vielleicht können auch nur zwei grandiose Musiker wie Chris Eldridge und Julian Lage die Tradition und die Musikgeschichte mit einem Lächeln auf den Lippen absolut spielerisch stemmen und weiterdenken.
Vergessene Perlen #1: Julian Lage & Chris Eldridge – Avalon
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Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.