10 Platten gegen akutes Hipstertum

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17 Minuten Lesedauer

Ja, schon wahr. Der Begriff „Hipster“ eignet sich ganz und gar nicht dazu, eine konkrete Gruppe von Menschen zu beschreiben. Vielmehr glaube ich aber, dass das „Hipstertum“ eine ganz bestimmte Rezeptionsweise von Musik und Kunst ist, die sich stark an der Gegenwart und an den aktuellen Trends orientiert und dabei musikalischen Tiefgang und musikalische Qualität leichtfertig links liegen lässt. Zumindest dann, wenn diese oder jene Band oder Musikrichtung im Moment als wenig lässig und cool gilt. Dabei ist es möglich, diese eher oberflächliche und auf Coolness bedachte Rezeptionsweise von Musik zu kurieren! Mit diesen 10 Platten wird euch jedes aufkeimende Hipstertum nachhaltig ausgetrieben und eure Ohren werden wieder auf die wahren, schönen und guten musikalische Werte gelenkt.
Nels Cline Singers – Macroscope
Der Name dieses Albums ist Programm. Hier wird keine Zeit damit verschwendet, sich in irgendwelchen Mikro-Genres oder Nischen herum zu treiben. Stattdessen geht hier Nels Cline mit seinen „Singers“ (die Band hat eigentlich gar keinen Sänger) aufs Ganze. Er spielt sich durch Noise-Rock, Jazz, Fusion, brasilianische Musik, Psychedelic-Rock und zum Drüberstreuen schlicht und einfach Popmusik. Das beste an dieser Platte: Dieses Wildern in den verschiedensten Spielarten der Gitarrenmusik wird nie zu einer intellektuelle Fingerübung, sondern ist stets absolut logisch und im Album-Kontext zwingend.
Wer im Heute eine Gitarre in die Hand nimmt muss sich eigentlich an Nels Cline messen. Nur: Leider kenne ihn (noch) zu wenige. Vielleicht weil er sich nicht auf eine bestimmte Spielrichtung festlegen möchte? Eigentlich absurd, denn genau dieses Grenzenlosigkeit wird bei ihm zu einem perfekten Spiegelbild der heutigen Zeit, in der es nicht mehr die eine musikalische Tradition gibt. Seine Musik ist Ausdruck der explodierten spielerischen Möglichkeiten wenn es um das Thema Gitarre geht. Mir fällt jedenfalls niemand ein, der einen eleganteren und überzeugenderen Weg durch das Dickicht der schieren musikalischen Vielfalt der Gegenwart fände als Nels Cline.

Julia Hülsmann Quartet – A Clear Midnight
Julia Hülsmann ist im Jazz keine Unbekannte. Ganz im Gegenteil: Sie setzt sich für die Sache des Jazz in Deutschland seit einiger Zeit auf höchster Ebene ein. Mehr noch ist ihre Musik aber ganz erstaunlich: Sie ist meilenweit von effektheischendem Spiel entfernt. Vielmehr sagt man ihr, zu Recht, eine unglaubliche Sensibilität im Umgang mit ihren Mitmusikern nach. Das alles garniert sie mit einem Hang zur schwelgerischen Melodieführung, der jedoch niemals auch nur in die Nähe von Kitsch oder Pathos kommt. Dafür bewahren Hülsmann und ihre Mitmusiker viel zu sehr eine leicht intellektuelle, formbewusste Fassung. Das Zusammentreffen mit dem Sänger Theo Bleckmann auf diesem Album ist dabei ein seltener Glücksfall. Wie hier alte Kurt Weill Stücke neu interpretiert werden, wie sich die Stimme von Bleckmann zugleich kühl und doch unmittelbar präsentiert: So etwas hört man garantiert nicht alle Tage.

Scott Walker – The Drift
Ja, Scott Walker ist der Sänger der ehemals wahnsinnig populären Band „Walker Brother“. Und ja, sein musikalischer Horizont hat sich verfinstert, seit er davon sang, dass die Sonne nicht mehr scheinen würde. Was genau aber mit Scott Walker passiert ist, dass er derartig erratische und kryptische Musik produziert, darüber kann nur spekuliert werden. Klar ist: „The Drift“ ist eine Zäsur, ein Einschnitt in seiner Entwicklung, von dem man sich als Hörer so schnell nicht mehr erholt. Seine Stimme schwebt gespenstisch über den vereinzelten Gitarrenakkorden und über den flirrenden Streichern. Die Texte handeln von Wahnsinn und davon wie es sich wohl anfühlt, der einzig Überlebende einer Katastrophe zu sein. Das ist absolut die Platte die ihr auflegen müsst, wenn ihr eure Party mal wieder vorzeitig beenden möchtet und stattdessen lieber unter euren Kopfhörern, gemütlich auf einem Sessel sitzend, dieser Irrsinns-Platte lauschen möchtet.

Dorothee Oberlinger – Telemann
Barockmusik? Blockflöte? Die ganze Sache auch noch ohne Orchester und absolut pur? Gott bewahre. Das wäre wohl eine mehr oder weniger normale Reaktion auf diese Platte. Wenn man nicht davon wüsste, dass die Blockflöte in Musikschulen seit geraumer Zeit als Anfängerinstrument misshandelt und sträflich unterschätzt wird. Wenn man nicht davon wüsste, dass Dorothee Oberlinger eine der absolut besten auf diesem Instrument ist und ihre Technik nun so wirklich gar nichts mit der Blockflöten-Aufführung in der Volksschule zu tun hat.
Dann wird derjenige mit offenen Ohren auch bemerken, welch archaische Kraft und Wucht die Blockflöte hier entwickeln kann. Dann folgt man auch den wunderschönen Melodien, die von der technischen Virtuosität von Oberlinger konzise und lyrisch zum Vorschein gebracht werden. Eine traumhafte Platte, die aber wohl dennoch nicht jedem gefallen wird. Glücklich aber, wer seine eventuell vorhandene Abneigung gegen Barockmusik und Blockflöte mal schnell bei Seite schieben kann und die immense Schönheit dieser Platte unbeschwert und vorurteilsfrei erfahren darf.

Steven Wilson – Hand. Cannot. Erase
Ja eh. Progrock. Muckertum. Endlos lange Soli. Endlose Schlagzeug-Soli und auch ansonsten spielerische Virtuosität, die nun wirklich niemand braucht. Könnte man meinen. Steven Wilson macht Progrock. Aber er widerlegt die Vorurteile, die so mancher gegenüber dieser Musikrichtung hegt. Hier finden sich keine endlosen solistischen Ausschweifungen, sondern eine absolut konzise Ausformulierung von Songs mit Hilfe der immensen spielerischen Möglichkeiten dieser Band.
Dabei wird schnell klar: Ob das jetzt Prog-Rock, Fusion, Pop oder was auch immer ist wird im Verlauf dieser Platte mehr und mehr egal. Vielmehr schöpft Steven Wilson hier aus dem Vollen, wenn es um die Umsetzung seiner Ideen geht. Jedes Mittel ist ihm Recht, wenn es nur der Emotion und dem Ausdruck dient. Und davon hat er auf dieser Platte nun wirklich jede Menge anzubieten. Anders gesagt: Wer hier nicht hin und wieder den Tränen nahe ist, der hat kein Herz oder zu lange Bilderbuch und Wanda gehört. Ein Traum von einer Platte, mit sicherer Hand und in jedem Augenblick stilsicher umgesetzt.

Hilary Hahn – In 27 Pieces: The Hilary Hahn Encores
Hillary Hahn. Diese verwöhnte reiche Göre, die von klein auf Geigenunterricht erhalten hat. Kein Wunder, dass sie so spielt wie sie spielt. Ecken und Kanten hingegen wird man in ihrer Musik vergeblich suchen. Wenn das so ist, dann liegt das aber daran, dass nicht genau hingehört wurde. Hahn spielt nicht nur brav und technisch exzellent den ganzen Kanon der klassischen Musik rauf und runter, sie kümmert sich auch um die Erweiterung des klassischen Repertoires.
Auf der vorliegenden CD kümmert sie sich um die Zugabe als Aspekt eines Konzertes, bei dem noch einmal alles auf die Spitze getrieben wird oder eben leise ausklingt. Ganz nach Geschmack, Lust und Laune des Musikers und der Komponisten. Hahn hat sich jedenfalls 27 Zugaben auf den Leib schreiben lassen, von denen sie hofft, dass sie nicht nur in ihren Konzerten in genau dieser Funktion stehen werden.
Der Reigen der Komponisten ist bunt. Sogar sehr bunt. Von Avantgarde bis zu indischen Einflüssen wird hier so gut wie alles hörbar und grandiose von Hahn in Szene gesetzt. Mit der notwendigen Bescheidenheit aber auch mit dem entscheidenden spielerischen Übermut, der sie auch ansonsten auszeichnet.

Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.

1 Comment

  1. Diese beiden Sätze im Anfangsteil des Artikels hindern mich am Weiterlesen.
    „Dabei ist es möglich, diese eher oberflächliche und auf Coolness bedachte Rezeptionsweise von Musik zu kurieren! Mit diesen 10 Platten wird euch jedes aufkeimende Hipstertum nachhaltig ausgetrieben und eure Ohren werden wieder auf die wahren, schönen und guten musikalische Werte gelenkt.“
    Ein anderer Musikgeschmack und eine andere Herangehensweise muss man also kurieren, es ist also eine Krankheit?
    Und Sie sind der Hüter der ‚wahren, schönen und guten musikalische Werte‘?
    Wahrscheinlich ist Provokation eines Ihrer Anliegen, aber das hier ist EKELerregend und vermiest die Lust, sich diese 10 Medizinstücke anzuhören.

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