Nein, das ist kein Text, in dem das böse „H-Wort“ wieder vorkommen wird. Ganz einfach deshalb, weil es keine Rolle spielt und eigentlich nie eine Rolle gespielt hat. Es war vielmehr stets nur ein Platzhalter für die Beschreibung einer Rezeptionsweise von Kunst, die sich sowohl auf Zeitgeist als auch auf Trends fokussiert und sich nicht intensiv mit Musik als das beschäftigt, was sie ist: Einfach nur Musik.
Musik kennt keine Grenzen, keine Trends, keine Epochen. Das sind lediglich Zuschreibung um mit der Unbeschreibbarkeit und mit der Grenzenlosigkeit von Musik zurechtzukommen und sie fein säuberlich schubladisieren zu können. Nur oberflächliche, seichte und banale Musik lässt sich festlegen. Musik, die keine Grenzen kennt und sich über Epochen, Zeitgeist-Strömungen und Genres hinwegsetzt ist hingegen ein radikales Mittel, um die Trennung von Gegenwart und Vergangenheit und Genres an sich ad absurdum zu führen.
Die Musik von Marco Ambrosini und Jean-Louis Matinier ist auf genau diese Weise grenzenlos. Das stellten sie beim gestrigen Konzert im Treibhaus Innsbruck unter Beweis.
Marco Ambrosini und seine „Nyckelharpa“ lassen sich in einer Vielzahl von Kontexten erleben. Er spielt Barockmusik, mittelalterliche Musik, begibt sich in jazzige oder folkloristische Gefilde. Eines fällt aber auf: Die verschiedenen Stile wirken niemals wie Brüche oder gar wie Widersprüche. Es wirkt so, als ob sein außergewöhnliches Instrument diese Stücke allesamt schon implizit in sich hätte. Er ist dabei nur mehr der Interpret, der sie auf virtuose Weise spielt und damit Geschichten zu erzählen versteht.
Sein Instrument atmet Geschichte, war bis zur Barockzeit noch sehr geläufig und ist dann plötzlich fast vollständig von der Bildfläche verschwunden, wurde von der Geige und ähnlichen Instrumenten verdrängt. Dass er sie wieder entdeckt und wieder erklingen lässt, ist sein großer Verdienst. Das Instrument scheint es ihm jedenfalls zu ermöglichen, eine Distanz zu wahren von zu viel Gegenwart und zu viel Zeitgeist.
Sein Instrument klingt anders, fremd, wie aus einer untergegangenen Epoche. Sein Spiel hingegen ist zeitgenössisch, heutig und dennoch geschichtsbewusst. Vielleicht sind das die Grundlagen für seinen Umgang mit Epochen, Stilen und Einflüssen, die weder Gerne, noch Ufer noch Grenzen kennen.
Das Konzert gestern im Treibhaus in Innsbruck war jedenfalls ein seltener Glücksfall. Anfangs klang das Instrument von Marco Ambrosoni noch fremd. So fremd, dass es sich nicht einordnen ließ. So fremd, dass Zweifel an dem Funktionieren dieses Konzertes berechtigt waren. War es nur der ungewöhnliche Klang seiner Nyckelharpa, war es der Sound der anfangs wenig optimal war oder war es gar die eigene Erwartungshaltung? Ich hatte ihn schon in einem anderen Kontext erlebt, erst vor wenigen Monaten. Damals selbstverständlich ohne Verstärkung, rein akustisch.
Damals fiel mir die Unmittelbarkeit des Klanges seines Instrumentes auf, das einen dennoch immer auf Distanz hält. Es gab aber keine Zwischenebene, der Klang des Instrumentes kam direkt zum Publikum. Gestern war es anders: Das akustische Instrument wurde durch ein Mikrofon und dann erst durch Boxen zu den Zuschauern geschickt.
Eine an sich völlig normale Situation für ein Konzert. Nicht jedoch für ein Konzert, das so außergewöhnlich werden sollte wie das gestrige Konzert. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an diese Problematik, mit der Zeit wurde der Klang wieder normal, er erschien mir nicht mehr gedoppelt oder auf eine andere Weise ungreifbar und fern. Er kam mir wieder nahe.
Marco Ambrosini griff bald zum Mikrofon und bemerkte, dass es ihnen als Duo um Musik ging. Um Musik, die sie mochten. Sie würden auch einige „alte Schinken“ spielen. Er lächelte bei dieser Aussage. Vielleicht weil er wusste, dass „alt“ und „neu“ bei diesem Konzert keine tragfähigen Kategorien werden sollten, zumal ja auch das „Alte“ zum Teil neu komponiert und neu arrangiert war. Gegenwart und Vergangenheit verschwammen und tanzten miteinander. Die Musik war nicht sperrig, sondern tänzelnd, virtuos, abenteuerlich und doch auch heimelig. Sie wirkte niemals wie ein kühnes oder gar kühles Gedankenkonstrukt. Sie war in jedem Augenblick einladend.
Dabei bewegten sich die beiden Musiker doch atemberaubend schnell: Von Barockmusik wie Bach, Scarlatti oder Biber bis hin Anleihen aus der französischen Folklore. Selbst Andeutungen von bluesigen Riffs glaubte man zu hören. Die Geschwindigkeit mit der hier mit Musik hantiert wurde war erstaunlich. Die Komplexität der Stücke wurde diesen niemals zum Verhängnis, sondern die Komplexität wurde als purer Möglichkeitsraum verstanden. Kurz gesagt: Je komplexer ein Stück, je mehr Ebenen es hatte, desto mehr Anschlüsse und Variationsmöglichkeiten lässt es für dieses grandiose Duo auch zu.
Wer hat eigentlich gesagt, dass J.S. Bach nicht auch ganz teuflisch grooven darf? Wer hat gesagt, dass diese Musik denkbar weit von Akkordeon-Musik des 20. Jahrhunderts entfernt ist? Wenn es jemand jemals behauptet haben sollte, dann würde er an diesem Abend ganz schnell schweigen. Er würde stattdessen leise mit seinem Fuß mit wippen. Er würde sich von diesem ganz besonderen Sog dieses Duos faszinieren lassen.
Das Publikum, mehrheitlich jenseits der 40-Jahre-Grenze, applaudierte nach einigen Stücken frenetisch. Musste ich mir Gedanken darüber machen, dass sich so gut wie keine jungen Menschen in dieses Konzert verirrt hatten? Hat Musik, die auch nur im Entferntesten mit Barockmusik umgeht derzeit keine Saison? Muss mich das alles überhaupt kümmern? Ich denke nicht. Denn bei diesem Konzert konnte man etwas lernen, das sich nicht bei jedem Konzert lernen ließ: Ganz unbekümmert, vorurteilsfrei hinzuhören.
Einfach nur zu hören, ohne zu bewerten und einzuordnen. Es wäre bei diesem Duo auch gar nicht möglich gewesen, vielleicht nur einem ausgewiesenen Fachmann, der die letzten 400 Jahre Musikgeschichte wie seine eigene Westentasche kennt. Aber ich denke das ist gar nicht der Punkt. Diese Musik ist eine Anleitung zum Entspannt-Sein. Zum unverkrampften Umgang mit Geschichte und Geschichtlichkeit von Musik.
Es ist eine Anleitung zur Erkenntnis, dass wir zu starr und zu sehr in Genre-Kategorien denken. Musik ist mehr als die Zuschreibung, die wir dieser anheften. Musik weist im besten Fall Zuschreibungen von sich. Musik überwindet Epochen. Pure Musik zeigt, dass die Musik von Biber unter Umständen zeitgemäßer und zeitgenössischer sein kann wie die Musik von der gehypten Indie-Band von nebenan.
Wer ein solches Konzert erfahren hat und die Haltung der Musiker auch als seine eigene Haltung ansieht, der wirkt plötzlich gelöst. Der hat bemerkt, dass es da draußen einen unendlich großen Abenteuerspielplatz der musikalischen Möglichkeiten gibt, der nahezu unerschöpflich ist. Der wird auch die postmoderne Behauptung beiseite wischen können, dass alles schon da gewesen sei.
Es mag vielleicht nichts mehr wirklich vollkommen Neues geben. Aber die Kombinationsmöglichkeiten und die musikalischen Möglichkeiten Stücke neu zu schreiben und neu zu lesen sind noch lange nicht ausgeschöpft. Marco Ambrosini und Jean-Louis Matinier haben gestern ein grandioses Konzert gespielt, das nachhaltig glücklich macht. Das gegen allzu oberflächliche Verlockungen des Zeitgeistes dauerhaft schützen kann.
Wer solche Musik erlebt und gehört hat, lässt sich nicht mehr in das Korsett der reinen Gegenwartsbezogenheit zwängen. Man fühlt sich wunderbar leicht, wenn die musikalischen und historischen Grenzen erst einmal aufgehoben sind. Dann macht alles wieder Sinn. Und musikalisch gehört dann sowieso alles mit allem zusammen und kann geschickt miteinander verwoben werden.
Marco Ambrosini und Jean-Louis Matinier im Treibhaus: Die wunderbare Leichtigkeit der Grenzenlosigkeit
Elfenbeinturmbewohner, Musiknerd, Formfetischist, Diskursliebhaber. Vermutet die Schönheit des Schreibens und Denkens im Niemandsland zwischen asketischer Formstrenge und schöngeistiger Freiheitsliebe. Hat das ALPENFEUILLETON in seiner dritten Phase mitgestaltet und die Letztverantwortung für das Kulturressort getragen.