Eine Freundin schenkte mir – in Vorbereitung auf den Theaterabend im Kino – „Hamlet“ in der (ihrer Meinung nach) besten Übersetzung von Wilhelm Schlegel. Darin kann man auf derselben Seite auch immer das original Shakespeare-English mitlesen, um perfekt „prepared“ zu sein. Zu meiner Schande muss ich gestehen, am Tag der Übertragung zum ersten Mal „Hamlet“ gelesen zu haben. So kämpfte ich mich also durch diese mühsame Sprache und beendete ein Stunde vor Theaterbesuch relativ ausgelaugt dieses Werk aller Werke. In meinem Kopf musste das irgendein martialisches Riesenschlachten-Stück sein – ist es aber nicht – mehr ein relativ intimes Familiendrama mit riesen Potential in jeder Rolle. Ein Beispiel dafür ist, dass Hamlet seinen Stiefvater ein Geständnis entlocken will, indem er ihn ins Theater führt und ein Stück auswählt, welches der Geschichte des Stiefvaters ähnelt. Seine physische Reaktion darauf soll die Wahrheit offenbaren. Ich stellte mir vor, dass Hamlet ein solches Problem mit Morddrohung und Schwerkampf löst – aber nein – sie gehen ins Theater – hat ja auch mehr Stil.
Für Literatur-Banausen (wie mich) hier eine Kurzfassung:
Der Geist von Hamlets Vater (quasi Hamlet Senior) erscheint und erzählt seinem Sohn, dass Hamlet Seniors von seinem Bruder ermordet wurde. Claudius, Hamlet Seniors Bruder, ist jetzt König und hat zudem noch dessen Frau geheiratet. Hamlet Seniors Geist verlangt von Hamlet Junior nun, dass dieser Rache ausübe, worauf hin Hamlet Junior phasenweise etwas verrückt wird. Wie er das genau versucht, liest man auf 100 Seiten Shakespeare-english oder Wilhelm Schlegel-Deutsch. Am Ende sind alle Hauptrollen tot.
Ich war ja sehr skeptisch, ob der Event so toll wird. Theater gehört ins Theater und Kino ins Kino – aber Theater im Kino? – Ich weiß nicht…
Um 20 Uhr begann die Live-Übertragung mit einleitender Moderation und einer kurzen Doku mit Hamlet-Darsteller Benedict Cumberbatch. „Hamlet fits every actor“ war sein finales Statement, bevor das Stück dann wirklich begann.
Zeitlich setzte man das Ganze irgendwo in der Zwischenkriegszeit bis Kriegszeit des vergangenen Jahrhunderts an. Degen und Schwerter waren weitgehend verschwunden und durch Pistolen und Maschinengewehre ersetzt. Ein anfänglicher Schwur auf das Schwert Hamlets wurde so zum Schwur auf dessen Hand.
Das Bühnenbild war eine gigantische (Eingangs-)Halle in der Residenz des Königs, die durch verschiedene Beleuchtungstricks und Spotlights auch Außenräume kreiert. Im zweiten Akt fehlte dann der Großteil des Mobiliars und die Bühne wurde mit Styropor-Dreck überschwemmt.
Um der Political-Correctness des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden, wurden viele kleine Männerrollen zu Frauenrollen – ansonsten würde man in den fast drei Stunden nur zwei Frauen sehen: Hamlets Mutter und die Tochter des Oberkämmerers Polonius, mit der Hamlet immer wieder G‘schpusis hat, sie in seinem Wahnsinn um Rache aber zutiefst beleidigt und verscheucht. Da die Frauenquote nun erfüllt war, musste noch die Ausländerquote erfüllt werden und so hatte der weiße Vollbart-Europäer Polonius also eine weiße Tochter und einen schwarzen Sohn.
Ich möchte das Thema Diskriminierung in Theater, Film und TV hier auf keinen Fall ins Lächerliche ziehen. Die letzten Verleihungen der Oscars und Emmys haben da ja versucht zu sensibilisieren, aber irgendwie wurde das hier konkret etwas halbherzig und eigenartig umgesetzt – wenn es nach mir geht, kann Hamlet ruhig eine asiatische Transgender-Frau sein – das wäre mutig.
Ansonsten fiel noch auf, dass Hamlets bester Freund Horatius der einzige war, der kleidungstechnisch direkt aus irgendeinem Hipsterviertel Londons geholt wurde – inklusive Riesentattoos. Hamlet war da zwischen den Zeiten: zu Beginn im Kriegs-Sakko des verstorbenen Vaters, dann in clowneskem self-painted Frack (während des Wahnsinns) und am Ende war er wahrscheinlich mit Horatius im Hipsterladen shoppen. Der Rest des Casts war in stilvoller Kleidung der Oberschicht bis Königsschicht zu Beginn bis Mitte des 20. Jahrhunderts gekleidet.
Schauspielerisch befinden wir uns hier auf einem Level, den ich mir fast nicht anmaße zu bewerten. Eine Schauspiellehrerin sagte mir mal: „Schauspiel ist dann perfekt, wenn du es dir in einer fremden Sprache ansiehst und du ohne ein Wort zu verstehen gefesselt und unterhalten wirst.“ Trotz vorangegangener Auseinandersetzung in Deutsch und Englisch, habe ich natürlich nicht jedes Wort(-spiel) verstanden. Keine Sekunde habe ich mich aber gelangweilt – und das trotz starker Müdigkeit. Zwischen Hamlet und seinem Gschpusi Ophelia (Sian Brooke) herrschte eine interessante Connection. Phasenweise hatten sie dasselbe Spiel – Ophelia verharrte aber in dieser Form, während Hamlet in seinem Wahn verschiedene Hamlets fand. So war es dann eben auch, dass Ophelia in ihrem verzweifelten Sein Selbstmord beging, während Hamlet ja ungewollt zu Tode kommt. Der Tod Ophelias wurde wunderbar und herzzerreißend inszeniert: Über das Stück hinweg fotografierte sie und im Augenblick ihres Todes findet Hamlets Mutter (Anastasia Hille) einen Koffer gefüllt mit den unzähligen Fotografien – ihrem Leben – die passende Musik holte dann die Tränen hervor (bei den anderen – bei mir natürlich nicht!).
Die Mutter ist auch ein großes Highlight! Ihre Rolle zwischen ihrem neuen Mann und ihrem Sohn spielt sie in einer hervorragenden Zerrissenheit.
Alles in allem war das ein rundum perfekter Theaterabend im Kino. Meine anfängliche Skepsis ist verflogen und hat sich in eine Euphorie sondergleichen entwickelt. Zu wissen, dass man parallel mit Tausenden weltweit in über 2000 Kinosälen dasselbe erfährt, entwickelt eine ganz eigene Magie. Dazu kommt, dass die Kameraeinstellungen einfach perfekt konzipiert wurden. Das Medium Film wurde mit dem Medium Theater auf eine Art kombiniert, sodass eine bezaubernde Symbiose entsteht. Auch die Schauspieler müssen hier ja eine Balance aus filmischem Spiel und klassischem Bühnen-Schauspielen finden, die beide Seiten befriedigt. Von der Live-Erfahrung kann ich jetzt natürlich nicht schreiben, aber bevor ich auf einem „schlechten“ Platz im London National Theatre sitze, würde ich diese filmische Umsetzung vielleicht sogar bevorzugen – auch wenn man im Kino z.B. Hustengeräusche doppelt so oft hört – einmal jene aus London und einmal jene aus Innsbruck.
Da die Schauspieler in Ultra-HD schwitzend und rotzend vor einem sind, entsteht hier eine Ehrlichkeit und Direktheit, welche ich bisher nicht auf Bühnen sah.
Oper findet monatlich im Metropl-Kino statt. Wer also gutes Theater sehen will, kann auch ins Kino gehen. Und mit tausend Anderen ein besonderes Ereignis erleben.
Titelbild: Hamlet (Benedict Cumberbatch).Photo by Johan Persson.