Ivan Bandura, Аn EU flag face mask, flickr.com
Musik zur europäischen Integration
Welchen Zweck erfüllt heute ein europäisches Kammerorchester – eine „Camerata Europaea“? Welche Erwartungen haben wir an so etwas? Politisch korrekt soll sie sein, und bei Gelegenheit Beethovens 9. in Kammerversion zum Besten geben. Nun – die Camerata Europaea ist weder das eine, noch tut sie das andere.
In einer Zeit, da wir permanent versuchen, unsere Grenzen – im weitesten und engsten Sinn – zu definieren, stellt sie die Frage, ob Europa auch „borderless“ geht. Naja, die Kunst darf ja gerne idealistisch sein.
Allerdings hat die Camerata die „europäische Integration“ (ganz wörtlich verstanden) von Anfang an auf ihren Fahnen stehen und möchte gerne mit gutem Beispiel voran gehen. Und sie möchte an das eigentliche Programm der EU und seine Folgen – in erster Linie 70 Jahre Frieden in Europa – erinnern. Und darüber hinaus will sie auch die Jungen fördern, herausragende junge Musiker, wie sie auch am Wochenende in Innsbruck gespielt haben.
Symbolisch besonders schön ist Griechenlands Rolle im Projekt. Griechenland, ohne das Europa kaum vorstellbar ist, und das heute kulturell wie politisch am Margin, an der Grenze steht und laufend marginalisiert wird – und sich selbst marginalisiert. Neben Berlin und Innsbruck ist Athen dritter Standort der Camerata. Die künstlerische Leiterin hat seit über 10 Jahren die hervorragende griechische Dirigentin Maria Makraki inne. Das ist natürlich bis zu einem gewissen Grad immer politische Botschaft. Aber es darf die Politik auch nicht überhand nehmen – sonst leidet die Kunst.
Nie nur politisch
Und Kunst, zumal wenn sie Grenzen dekonstruieren möchte, betrifft nie nur politische und kollektive Grenzen. Die betrifft in erster Linie subjektive Grenzen: Meine Grenzen, einem konkreten anderen gegenüber. Zumindest wenn sie es schafft, die Grenzen zwischen „Kultur“ im elitären Wortsinn – das, was in Galerien und Konzertsälen passiert – und „Kultur“ im eigentlichen Wortsinn – das, was wir tagtäglich leben – zu überschreiten.
Die Camerata ist – da dürfen wir uns nichts vormachen! – sehr elitär. Sie fördert zeitgenössische europäische Komponisten und führt sie auf, darunter gestern auch zwei herausragende Innsbrucker, Manuela Kerer und Michael F.P. Huber. Sie wird nur einen winzigen Bruchteil derer erreichen, die heute Angst um ihre Identität haben. Zu viel zeitgenössische Kunst, zu viel Avantgarde, die ja ganz ohne Blockflöte auskommt, macht eher noch mehr Angst. Und sie wird auch nur sehr bedingt bei der Integration von mehreren Millionen Flüchtlingen helfen.
Aber es gibt Wege und Mittel, die Avantgarde auf den Boden zu holen.
Dem Teufel die Fidel
Das Herzstück des Festivals war nämlich Igor Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“, der sein Gewehr gegen eine Fidel eintauscht – und sie dann an den Teufel verliert. Die Tanzperformance, vom Innsbrucker Ensemble begleitet und wunderbar choreographiert von Daniel Renner, findet auf zwei Ebenen statt: Auf der Bühne und auf einer Leinwand. Eingeleitet wird sie mit CNN, „Mosul Defense“, „ISIS Assault“ – Krieg ist heute und jetzt, an Europas Grenzen. Ob wir zum Gewehr oder zur Violine greifen, ist eine pragmatische Frage. Europa ist auch Realpolitik. Es entscheidet sich daran aber auch, wie wir unsere Identität sehen. Nicht die Identität, die wir unbedingt verteidigen müssen, sondern die Identität, die wird leben.
Wenn wir, so wie Strawinskys Soldat, die Violine gegen ein Zauberbuch – also: Kunst gegen Macht, Sinn gegen Zweck – eintauschen, werden wir sie mit großer Sicherheit nicht mehr zurückbekommen. Strawinskys Bilder sind archaisch, aus einer Zeit vor den Nationalidentitäten. Die Botschaft ist universal. Der Soldat landet in der Hölle, in Gewalt und Entfremdung. Das passiert, wenn wir die Kunst aufgeben. Und vielleicht möchte das Festival „Borderless“ auch ein wenig davor warnen. Dann ist auch die Funktion von Kultur neu definiert, sie wird existenziell. Dann steht auch, wie das der Tiroler Komponist Christian Reimeir fordert, eine emotionale Aussage hinter der Avantgarde.
Ein Biedermeier-Traum
Trotzdem: „Mehr Street Art!“, möchte man schreien – mehr Grassroots, mehr Vielfalt. Doch da kommt sie schon, im After-Show-Programm. Auf einer großen Leinwand werden Videos gezeigt, die hart an der Grenze zur Populärkultur sind, und trotzdem Avantgarde. Zuerst ist es Tanz von Choreograph Daniel Renner, cool und dann kommt ein Kurzfilm, „Borders“. Dieser Kurzfilm, Borderless, handelt von jungen Südafrikanern, nicht Briten, aus ganz unterschiedlichen Kontexten.
Grenzen sind poltitisch notwendig; sie haben Vorteile; sie sind die reine Unterdrückung. „Borderless…?“, fragt der Film noch. Aber da ist der Saal schon leer. Niemand ist mehr übrig, um die Frage zu hören, sie mitzunehmen, sich eine Antwort auszudenken. Schnell nach Hause, ins schöne Biedermeier-Heim. Wir kennen unsere Grenzen sehr genau, scheint es. Und deshalb sind wir kurz davor, den großen „Traum von Glück und Freiheit“ zu unserem ganz persönlichen Traum innerhalb unserer ganz persönlichen Grenzen zu machen. Wenn die Kunst nur dagegen helfen würde…