Wer ein echter Kerl sein will, muss schon mal einen Hirsch umgelegt haben. Das ist zumindest der Initiationsritus, den Ben, gespielt von einem wunderbar verschrobenen und bärtigen Viggo Mortensen, im 2016 erschienen Captain Fantastic für seinen 18-jährigen Sohn inszeniert. Der Vater, ein hochideologischer Ideologiekritiker, erzieht seine sechs Kinder in Washington (Staat, nicht Stadt) zu autarken Antikapitalisten.
Inmitten einer fast unberührten Wald- und Wiesenidylle trichtert er ihnen abwechselnd Noam Chomsky ein und jagt sie steile Felswände hoch. Dazwischen machen sie wilde Musik. Schon die Kleinste mit ihren 8 Jahren findet die westliche Welt ziemlich faschistisch, kann aber so einiges mit der Bill of Rights anfangen (und auch auswendig daraus zitieren).
Die Vorteile der Zivilisation
Und damit verkörpert sie ziemlich präzise eine upgedatete Version von Thoreaus Vorstellung eines gesunden Menschen: Der lebt in einigem Abstand zu einer arbeitswütigen und repressiven Gesellschaft, versorgt sich selbst und liest für die Moral und gegen die Einsamkeit die großen Klassiker der Weltliteratur – wenn er nicht gerade eine „Verabredung mit einer Rotbuche oder einer gelben Birke“ hat oder sich in „Ungehorsam gegen den Staat“ übt.
In der radikalen Einsamkeit muss man ja nun nicht unbedingt ungehorsam sein. Aber auch Thoreau mischte sich während seines zweijährigen Experiments hin und wieder unters Volk – zum Beispiel, um entlaufenen Sklaven bei der Flucht über die kanadische Grenze zu helfen.
Viggo Mortensen und seine sechs Filmkinder zwingen sich nur in die Zivilisation, um die Mutter, die sich in einer depressiven Episode das Leben genommen hat, vor einem christlichen Begräbnis zu bewahren. Woraufhin sich dann herausstellt, dass die Zivilisation durchaus ihre Vorteile hat – Hotdogs und andere Menschen zählen mit Sicherheit dazu – und dass es auch eine Form der Repression ist, Kindern diese Welt vorzuenthalten.
Schon Rousseau im 18. Jahrhundert musste seinem Émile gründlich das Gehirn waschen, um ihn zu einem „natürlichen“ Menschen zu erziehen. Wie merkwürdig!
Deshalb: Wer aussteigt, muss sich zumindest selbst dafür entscheiden, und die unabsehbaren und sehr variablen Folgen auf sich nehmen.
Denn natürlich ist Captain Fantastic nur die Spitze des Eisberges, und keiner kennt die Zahl der amerikanischen Jünglinge, die sich, von Tolstoi, Jack London und ihrem tiefschürfenden Weltschmerz angestachelt, irgendwo in der Wildnis versehentlich umgebracht haben.
Nur jugendlicher Leichtsinn?
Einer von ihnen, der Kalifornier Chris McCandless, war schon vor einigen Jahren Anlass für einen großartigen Film, Into the Wild von Sean Penn. Um dem American Dream endgültig abzuschwören, überwies McCandless die Ersparnisse für seinen Master an Oxfam, verbrannte sein ganzes Bargeld in die Wüste und zog mit einem Rucksack voller Bücher quer durch Nordamerika.
Die großartigen Landschaftsaufnahmen und Eddie Vedders Soundtrack tun ihr Übriges zur Aussteigerromantik. Dass McCandless mit 24 starb, weil er sich mit Wildpflanzen vergiftete und in der Einsamkeit von Alaska langsam verhungerte, wird indes nicht verschwiegen. Unvernünftig? Auf jeden Fall. Trotzdem eine geniale Idee? Ohne Zweifel.
Denn man darf die Entscheidung zum Abhauen wohl nicht nur auf jugendlichen Leichtsinn oder Langeweile schieben. Immer wieder – in Massachusetts in den 1840ern, in Kalifornien in den 1990ern, in Österreich in den 2010ern – finden Menschen nun mal, dass diese banale Scheiße wohl noch nicht das ganze Leben gewesen sein kann. „Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, dass ich gar nicht gelebt hatte“, schreibt Thoreau. „Society, you’re a crazy breed / I hope you’re not lonely without me“, singt Eddie Vedder zu Into the Wild.
Die Vorteile der Einsamkeit
Das kann nun nicht grundsätzlich falsch sein, würde man meinen. Und vor allem versteht man in der Einsamkeit oft erst, dass man sich ohnehin nur vormacht, autark sein zu können. „Happiness only real when shared“, notierte sich Chris McCandless, als er schon keine Aussicht auf Rettung mehr hatte. Das ist eine wunderbare Entdeckung. Und ohne die Einsamkeit hätte er sie wohl nie so gemacht.
Wer nun noch nicht abgeschreckt genug ist und sich selbst im Aussteigen üben will, muss nicht zwingend nach Alaska oder Washington, er kann es auch in den Alpen tun. Ein bis zwei Wochen reichen oftmals. Alles, was er dazu braucht, ist eine Berghütte und eine vollgekritzelte Tolstoi-Gesamtausgabe. (Es schadet aber auch sicher nicht, seinen Thoreau einzupacken.) Verabredungen mit Rotbuchen sind im Übrigen einzuhalten. Davon abgesehen sollte man wohlweislich die Klappe halten und sich möglichst auch aus allen sozialen Netzwerken ausklinken.
Was man in dieser radikalen Konfrontation mit sich selbst lernt, ist völlig offen. Es sei aber darauf hingewiesen, dass jeder, der „zuversichtlich seinen Träumen folgt“ wie Thoreau, das auf eigene Gefahr hin tut.
Aber wir können davon ausgehen, dass es ihm nützen wird. Und auch der repressiven Gesellschaft in ihrer „stillen Verzweiflung“ – wenn er (hoffentlich!) irgendwann wieder aus der Einsamkeit zurückkehrt und sich ihrer annimmt. Das ist dann wohl für beide besser so.
Literaturtipps
Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Diogenes, 2007.
Jon Krakauer, In die Wildnis. Allein nach Alaska. Piper, 2007.
Filmtrailer
Titelbild: (c) Universum/24 Bilder