Fitzcarraldo ist wahrscheinlich das größte Paradoxon in der Kunstgeschichte: Mitten im Dschungel soll die perfekte Oper stattfinden! Als Konzept angelegt bedarf es dazu nicht einmal einer Rodung, die Oper wird mitten in unberührter Natur aufgeführt, weil jemand den Willen hat, dass es geschieht. Ähnliches passiert ja auch in Franz Kafkas „Naturtheater von Oklahoma“, das allen Interpretationen zum Trotz niemand gesehen hat und das auf Gerüchte-Basis existiert.
Beiden gigantischen Kunstwerken liegt die These jener Flat-Tax-Ökonomen zugrunde, wonach eine gute Steuererklärung auf einem Bierdeckel Platz hat. Verfassungsrechtler träumen schon seit Jahrhunderten von einer Verfassung, die auf einem kleinen Stück Pergament Platz hat. Ein solches Wunderwerk sollte im Idealfall aus einer Unterschrift unter nichts bestehen.
In der Kunst ist es Gottseidank möglich, große Werke auf kleinstem Raum zu installieren. Jedes Buch ist letztlich eine Giga-Oper, die im Kopf des Lesers bei jedem Umblättern der Seite neu installiert wird.
Bibliothekare als die Hüter des Leseschatzes schwärmen vom idealen Buch, das mit Handschuhen angefasst aus einem Stück Pergament besteht und sonst nichts. Der gegerbte Datenträger ist die Botschaft, weshalb die Schrift verblasst, die Eselshaut aber noch nach Jahrhunderten die Bibliothekare zum Orgasmus führt wie bei der Anwesenheit in einer Oper.
Aus dieser Gerb-Kultur ist letztlich die Kunst der Oper auf dem Bierdeckel entstanden. Dabei wird auf einem Stück Back-Papier ein großer Augenblick eingefangen und zu einer Vignette verdichtet. Die Zeichnung gilt als die menschlichste Form des Ausdrucks, knüpft sie doch an jene Zeit an, als man sich gerade in Höhlen aufgerichtet hat. (Der Mensch ist ja deshalb zum Zweibeiner geworden, weil er in Höhlen die Vorderhufe zum Zeichnen verwendet hat.)
Im Sinne eines Cartoons wird eine dramatische Handlungsleiste zu einem einzigen Bild eingefroren. Scheinbar zufällig skizzierte Wesen verfrieren zu einem kalten Augenblick der Analyse. Oft wird dieser Szene ein Stück Sprachmaterial beigefügt, wie etwa „Pfui“, „Mama, wo ist der Konsum“. „Ich will Kohle machen“, „Ischgl“ oder einfach nur „Hä?“
Für den Hausgebrauch der pandemischen Hochkultur sind diese Cartoons von unschätzbarem Wert, reagieren sie doch indoor auf externe Gegebenheiten. Zudem ist eine Zeichnung immer wertvoll, es gibt per se keine wertlose Zeichnung, selbst die Null hat als Zeichnung einen Wert.
Text und Zeichen, völlig aus jeweiligen Kontexten gerissen und archaisch miteinander verheiratet, dokumentieren eine gesellschaftliche Instanz, die über dem Individuum steht.
Durch die Industrialisierung der Kunst und ihrer Uniformierung ist völlig in Vergessenheit geraten, dass Künstler auch dazu da sind, neue Kunstformen zu entwickeln. Im Sinne der Konzeptkunst soll dabei zumindest der Schöpfer eines neuen Genres wissen, worum es sich handelt.
Pandemien werden vergehen, die pandemische Kunst des Pergament-Cartoons wird bleiben und von jener Zeit berichten, als sich der Mensch nach der Verrenkung in der Höhle ein zweites mal aufgerichtet hat.
STICHPUNKT 20|14, verfasst am 20. Mai 2020