Das letzte Live-Erlebnis war zumindest ambivalent. Eine ältere Dame fühlte sich bemüßigt das eigene Verhalten nach dem Konzert lautstark zu kritisieren. Man habe, weil während dem Konzert Fotos geschossen wurden, der Musik nicht den notwendigen Respekt gezollt. „Wir sind hier nicht auf einem Pop-Konzert“, war der gewichtige Zusatz dazu.
Zum anderen ist einem noch in Erinnerung, dass vor kleinen Club-Konzerten die Warteschlangen vor der Bier-Bar ein stetiges Ärgernis waren und das Bier dann niemals auch nur im Entferntesten so geschmeckt hat, wie es eigentlich schmecken sollte. Von okkupierten Tischen und ungeduldigen Menschen in Pausen bei sogenannten Hochkultur-Veranstaltungen will man eigentlich gar nicht reden. Zu grausam sind die Erinnerung daran, deren Schmerzhaftigkeit kaum von dem einen oder anderen tiefergehenden Gespräch mit zufällig getroffenen Bekannten gelindert wird.
Groß war darüber hinaus oft der Ärger über Tontechniker oder Band selbst. Zu oft war die Studio-Version eines Songs im Ohr, die gnadenlos von Soundbrei und schlechter Interpretation zunichte gemacht wurde. Improvisatorisches Geschick oder gar künstlerische Kreativität waren nur allzu oft absolute Fehlanzeige. Nach den Konzerten ging man zwar oftmals mit Merchandise-Shirt nach Hause, die aber meist garniert mit einer gehörigen Portion Enttäuschung war.
Schließlich aber sind Live-Konzerte Konsens-Orte. Einem Konzert-Besuch geht meist die Überzeugung voraus, dass ein Album, ein Song oder der Ruf einer Band, eines Acts oder eines Solo-Künstlers so interessant ist, dass man der Live-Reproduktion von diesen Phänomenen beiwohnen möchte. Tritt dann der unwahrscheinliche Fall ein, der stets mit Komplexitätsverringerung zu tun hat, dass sich ausgerechnet an diesem Ort zu dieser Zeit Menschen mit ähnlicher Meinung wie der eigenen einfinden, dann gilt es diesen zu feiern und die Geschmacksübereinstimmung ausführlich und ritualhaft zu würdigen.
Jeder Applaus nach jedem Song stärkt dieses Gemeinschaftsgefühl und zelebriert die Übereinstimmung von Menschen, die sich ansonsten gar nicht kennen und kaum Gemeinsamkeiten haben. Der Konsens über die Qualität eines Kulturproduktes schafft temporäre Einheit, erschafft Massen und schaltet gleich. Menschen wiegen sich im Rhythmus, wissen intuitiv an welcher Stelle der Songs mitzuklatschen ist oder wann sehnsüchtig Feuerzeuge oder neuerdings Handy-Taschenlampen geschwenkt werden müssen.
Dem entgegen steht die Vereinzelung vor dem eigenen Laptop oder Smart-TV, über den jetzt schon seit einiger Zeit vorrangig Live-Kultur rezipiert wird. Allein die zumeist abwesenden „Hürden“, etwa Eintrittskosten oder Anfahrt zu Konzerten, verändern die Zusammensetzung des Publikums völlig. Bestand früher der bereits beschriebene Konsens, so treten an dessen Stelle andere Motivations-Gründe für einen „Konzertbesuch“. Zufall, Langweile oder andere Beweggründe lassen das Publikum heterogener werden und fragmentieren es.
So sind Live-Konzerte aus Clubs wie etwa dem Wiener „Porgy & Bess“ gespenstische, seltsame leere Events. Nicht nur der abwesende Applaus des Publikums irritiert, sondern in diesem konkreten Fall auch das völlige Fehlen von Austauschmöglichkeiten. Da die Konzerte exklusiv und live über die eigene Homepage gestreamt werden, gibt es weder Chat-Funktion noch sonstige Möglichkeiten zur Publikums-Interaktion. Was wohl als Fokussierung auf das Live-Erlebnis gemeint ist, bewirkt das schiere Gegenteil, nämlich die absolute Vereinzelung des Betrachters, der auf sein eigenes Urteil über die dargebotene Qualität zurückgeworfen ist.
Denn auch das ist Live-Kultur: Im Bewusstseinsstrom des kollektiven Kulturgenusses verändert sich das eigene Urteilsvermögen. Es wird gleichermaßen aufgeweicht wie auch geschärft. Nicht allein das eigene Wohlgefallen ist im Mittelpunkt, sondern auch die gemeinschaftliche Aufnahme des jeweiligen reproduzierten Kulturproduktes. Die soziale Wirkung auf das versammelte Kollektiv ist immer auch Bestandteil des eigenen Urteils.
Unter gewissen Gesichtspunkten betrachtet fehlt die Live-Kultur, bei allen Unzulänglichkeiten, die sie mit sich bringt, also tatsächlich. Die Frage wird sein, wie wir wieder bedingungslos in das gemeinschaftliche Live-Erleben kommen und wie sich diese Rezeptionshaltung durch Monate der Vereinzelung verschoben und verändert hat.