„Wie können wir ohne Theater überhaupt leben?“, stellt Doron Rabinovici die angebliche Gretchenfrage im Standard und bittet Leser – pardon: User – um ihre Beiträge. Meine Reaktion möge auf diesem Wege erfolgen und gnädig zur Kenntnis genommen werden.
Tatsächlich kann ich mir ein Leben ohne Theater durchaus vorstellen; aber vorstellen kann man sich bekanntlich sehr viel. So ein Leben wäre allerdings ziemlich schmerzhaft. Mein literarisches Dasein war von Anfang an eng verwoben mit Theaterbesuchen. Die dürften sogar noch vor dem Lesen, vor der fiction gekommen sein. Eine Aufführung, an die ich mich erinnern kann, fand im – damals eben erst wieder eröffneten – Tiroler Landestheater statt: Beckett oder die Ehre Gottes von Jean Anouilh. Ich war ganz weg. Etwas später diente ich in Zwölfaxing bei Schwechat einen Teil meines Präsenzdienstes ab. Wiener Bekannte nahmen mich am Wochenende mit ins Theater – Komödien meistens, in der Josefstadt, den Kammerspielen oder ähnlichen Etablissements. Das begründete meine Liebe, und die hat lebenslang angehalten. Zur Zeit strahlt der ORF solche Aufzeichnungen wieder aus, und dafür sei ihm ehrlich und herzlich gedankt. Über die so unterschätzte Kunst der Komödie, des Lustspiels wird vielleicht ein andermal Gelegenheit sein zu reden.
Aber natürlich geht’s nicht nur um Komödien. Ich bin schließlich durch die germanistische Mangel gedreht worden. Auch in dieser Sphäre hat’s zutiefst bewegende Erlebnisse gegeben (und dabei red’ ich gar nicht von England, von London oder von Stratford). Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Nora in der Josefstadt, ebenso an eine Glasmenagerie, vor allem aber an Der Schwierige von Hugo von Hofmannsthal mit Helmuth Lohner in der Titelrolle. Da knisterte die Spannung im Zuschauerraum, und das nicht etwa wegen einer sensationellen Inszenierung, sondern ausschließlich wegen des Textes, des gesprochenen Wortes, das aber mit exquisiter Schauspielkunst.
Ein denkwürdiges Ereignis.
Leider scheinen die in immer weitere Entfernung zu rücken. Wenn man heute ins Theater gehen will, dann mag das Programm wohl interessante Stücke versprechen, man wird aber gut beraten sein, Kritiken zu studieren, und zwar sehr genau, zwischen den Zeilen lesend, denn offen wird’s ja nie ausgesprochen, wenn eine Inszenierung Mist ist. Und letzteres kommt immer häufiger vor. Dafür garantiert das Regietheater. Es besteht darin, dass irgendein Nebochant ohne die geringste schreiberische Begabung glaubt, jedem beliebigen Stück seine Duftmarke aufdrücken zu müssen. Was dabei herauskommt. ist immer dasselbe: Zerstückelte Handlung, Deklamationen im Schreiton, unmotiviertes Herumgetrample auf der Bühne. Jedes, aber auch gar jedes Drama kann so zerstört werden – und es wird. Schau’n Sie sich bloß um, geht ja zur Zeit dank live stream: Schillers Kabale und Liebe am Tiroler Landestheater zum Beispiel; eine preisgekrönte Maria Stuart von einer Berliner Bühne; oder der Lumpazivagabundus in der Josefstadt. Letztere Inszenierung kommt einer mutwilligen Sachbeschädigung gleich, angesichts welcher man sich anfängt die Frage zu stellen, ob man dagegen nicht doch rechtlich vorgehen sollte.
Für mich bedeutet das die resignierende Einsicht, dass meine Theaterzeiten wohl vorbei sein dürften. Zu alt. Wenn ich je wieder ins Theater komm’, hier oder in Wien, werde ich mir die Aufführungen sehr sorgfältig aussuchen müssen. Wenn freilich selbst die Josefstadt glaubt, auf den kruden Karren des Schmieren… äh, pardon, des Regietheaters aufspringen zu müssen, dann wird die Wahl ziemlich beschränkt. Also bleibt in Zukunft bloß die Hoffnung auf alte ORF-Aufzeichnungen. Wie immer kann ich nicht glauben, ich sei außerordentlich. Ganz im Gegenteil. Deshalb nehme ich an, dass viele, viele andere genau so denken. Ein Leben ohne Theater? Die Entscheidung liegt nicht bei uns. Die nimmt uns das zeitgenössische Theater selbst ab.