Es gibt Kunstwerke, die sind nicht weltberühmt, können aber den Blick auf die Welt nachhaltig verändern, können zum Kipp-Punkt in einem Leben werden.
So erging es mir vor vielen Jahren mit einer Plastik auf der Kasseler Documenta. Den Namen des Werkes und den des Künstlers habe ich vergessen, aber das Werk steht mir täglich vor Augen, egal, ob es um unseren Umgang mit der Natur, mit der Demokratie, mit traumatisierten Geflüchteten, mit Corona geht — in all unseren alltäglichen Krisen ist mir diese Plastik zum Leit-Bild geworden. Dabei war sie auf den ersten Blick keineswegs spektakulär. Nur eine schwere Stahlplatte, gut zwei Meter im Durchmesser, die an einem dünnen Drahtseil knapp über dem Boden schwebte. Ruhig und rund hing sie da.
Und da machte ich den Fehler: Ich tippte sie am Rand an. Ganz leicht. Der Aufseher lief schimpfend herbei, und ich dachte noch verächtlich: Wie antiquiert, diese Vorstellung vom unberührbaren Meisterwerk! Und das auf einer Documenta! Doch dann sah ich, wie die schwere Scheibe zu schwingen begann, in immer weiteren Kreisen. Sah, wie mein winziger Antippser diese schwere Stahlplatte derart aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, dass keiner sie mehr einfangen konnte, auch der Wärter wusste sich keinen Rat. Ich verdrückte mich. Vielleicht schwang sie bis zum Ende der Ausstellung weiter und vielleicht hatte der Künstler ja genau das gewollt. Vielleicht aber auch nicht …
Dieses Werk hat mich gelehrt, was ein tipping point, ein Kipp-Punkt, ist. Wie wenig es braucht, um ein in sich ruhendes, scheinbar unerschütterliches System aus der Balance zu bringen. Ob das unser natürlicher Lebensraum, unsere Demokratie oder die Seele eines Menschen ist. Wenn etwas Großes an einem sehr dünnen Faden hängt, hat der kleinste unschuldige Tippser womöglich unabsehbare Folgen.