Filmische Zeitreisen sind für sich genommen häufig ein wenig irritierend. Nirgendwo wird die sinnliche Qualität vergangener Zeiten so spürbar wie im Film. Die Fotografie, zumindest die analoge, trägt – sagt Roland Barthes – „Spuren des Realen“. Der Gegenstand hat reale materielle Spuren hinterlassen, er ist uns so unmittelbar gegeben wie in keiner anderen Kunstform. So war die Welt einmal, sichtbar, atmosphärisch spürbar. So ist sie nicht mehr.
Zeitreisen mit Jean-Luc Godard sind besonders irritierend. Nicht nur, weil er, wie viele seiner Kollegen aus der Nouvelle Vague, besonders mit der Sinnlichkeit des Mediums spielt. Sondern auch, weil er halt Godard ist, seit über 50 Jahren gerne und prinzipiell überfordert und wenig Anstalten macht, es zu lassen. Da braucht es für seinen Science-Fiction-Geniestreich Alphaville schon mal eine philosophische Einführung.
Eine Tyrannei der Gegenwart
Der Einstieg in dieses fremde dystopische Paris vulgo Alphaville – denn tatsächlich sind es nur verfremdete Bilder von Paris, aus denen der gesamte Streifen besteht – ist schmerzhaft abrupt. Der Protagonist Lemmy Caution (Eddie Constantine), dessen Perspektive wir teilen, kommt als amerikanischer Spion in seinem „Ford Galaxie“ an. Die Figur sträubt sich gegen Identifikation. So hat man als Zuschauer eh schon kaum Orientierung, und dann ist man auch noch ständig mit apathischen Mädchen konfrontiert, deren stehende und völlig leere Wendung „Je vais trés bien, merci, je vous en prie“ legendär geworden ist.
Alphaville ist eine Diktatur. Beherrscht wird es von Alpha 60, einem komplexen kybernetischen System. Heute würde man es Software nennen. Seine Herrschaft beruht auf der logischen Schlussfolgerung, die zum einzigen Zweck und umfassenden Gesetz geworden ist.
Das ist, zugegeben, philosophisch herausfordernd. Der Mensch ist keine Software, würden wir sagen. Kann er zu einer gemacht werden?, fragt Godard.
Die Zeit ist das hauptsächliche Problem. Es gibt nur die Gegenwart, niemand war je in der Vergangenheit, niemand wird je in der Zukunft sein. Es gibt keinen Blick für das Ganze mehr, und es braucht auch keinen. Daran wird in Alphaville festgehalten.
Wenn es eine spezifisch menschliche Identität gibt, dann ist sie an das Bewusstsein von der eigenen Zeitlichkeit gebunden. Wir sind, was wir sind aufgrund unserer Erfahrungen. Wir sind nicht an das gebunden, was wir sind, weil wir in die Zukunft hineinleben. Wenn diese beiden Ebenen verloren gehen, verflachen wir als Menschen und als Gesellschaft – und vor allem die Kommunikation verflacht. Wie bei Orwell verschwinden auch bei Godard die Poesie und jegliche Möglichkeit dazu aus der Sprache, Wörter wie „Zärtlichkeit“, „Herbstlicht“ oder „Bewusstsein“ versinken in die dunstige Vergessenheit.
Das erfährt Caution von der faszinierenden Natascha von Braun (gespielt von Godards damaliger Frau Anna Karina), die zumindest spürt, dass ihr der Sinn für Poesie fehlt und die verzweifelt danach sucht.
Adorno muss ins Kino
Natürlich, wenn die Grenzen unserer Sprache auch die Grenzen unserer Welt sind, wird die Welt eng und bedrückend, je weniger wir ausdrücken können. Alphaville ist der Sieg der Zweckrationalität über Kunst, Liebe und Menschlichkeit aus Ermangelung der richtigen Worte dafür.
Es ist die Diktatur der Maschinen, und die Identifikation damit. Die Konsequenz daraus können natürlich nur Unterdrückung und Gewalt sein.
Auch wenn Adorno das Kino aus tiefster Seele verachtet, ist Alphaville die Film gewordene „Dialektik der Aufklärung“.[i] Und wie bei Adorno muss man fragen, ob das hemmungslose Eindreschen auf Technologie und Wissenschaft nicht am Eigentlichen vorbeigeht. Natürlich ist nicht die Physik schuld am ganzen Elend, sondern die Illusion von Kontrolle, in die die Menschheit sich in ihrer maßlosen Unsicherheit begibt.
In dieser Unsicherheit bietet die Wissenschaft keine Orientierung. Sie lässt uns im Gegenteil die Freiheit, unser Erleben zu leugnen oder es nicht zu tun. Ob wir uns als Wesen mit einer Vergangenheit und einer Zukunft begreifen, ist nicht nur eine Frage des Wissens, sondern auch der Wertigkeit.
Wie sieht 4D im Film aus?
Die Zeit ist übrigens auch das Problem von Markers Kurzfilm La Jetée, der zu Beginn gezeigt wird. Der Raum ist zerstört, jetzt bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als sich in der Zeit möglichst frei zu bewegen. Und auf geniale Weise ist La Jetée noch viel metaphysischer als Alphaville: Es ist ein Film, der fast nur aus Stills besteht; der Fluss ist unterbrochen. Damit läuft die Geschichte formal wie inhaltlich in 4D, die Zeit ist in Teile zersplittert. Nur das rettende Bild der schönen Frau bewegt sich. Wunderbar und bedrückend, und hier online anzuschauen.
Auflockernd ist dieser Einstieg jedenfalls nicht. Der französische Science-Fiction-Film besticht vielleicht durch Originalität, nicht aber durch Ermutigung.
Die Schwäche ist die schwere Zugänglichkeit. Die Stärke liegt in der Art, wie wir mangels Orientierung zum Selbstdenken gezwungen sind.
Liebe als Revolution
Aber Godard ist kein Pessimist, sonst könnte er sich selbst nicht ertragen. Und so schließt Natascha, die Frau, die zu Beginn nicht weiß, was sie mit dem Wort „amoureux“ anfangen soll, den Film mit dem Satz „Je vous aime“. Alpha 60 wird vernichtet. Das muss auch sein. Godard ist Marxist, wie es Adorno war, und natürlich gibt es „kein richtiges Leben im falschen“. Nach knapp 100 Minuten der verstörenden Emotionslosigkeit in reduzierter Schwarzweiß-Ästhetik mutet das zum Glück nicht allzu sentimental an. Denn was könnte universeller sein, und was menschlicher?
Die KinoZeitreisen gibt es als Lux- und Nox-Veranstaltungen – erstere sind Sonntagsmatinéen, letztere Abendvorstellungen. Klar, dass Easy Rider zur Nox-Fraktion gehört und Breakfast at Tiffany’s bei Tageslicht gezeigt wird. Am 12. März geht es erstmal mit Wim Wenders’ Der amerikanische Freund weiter. Wir halten euch auf dem Laufenden.
[i] „Mit der Preisgabe des Denkens, das in seiner verdinglichten Gestalt als Mathematik, Maschine, Organisation an den seiner vergessenden Menschen sich rächt, hat Aufklärung ihrer eigenen Verwirklichung entsagt. Indem sie alles Einzelne in Zucht nahm, ließ sie dem unbegriffenen Ganzen die Freiheit, als Herrschaft über die Dinge auf Sein und Bewußtsein der Menschen zuückzuschlagen“, heißt es da zum Beispiel (Ausgabe S. Fischer 1988, S. 47f.)
Trailer und Vorausschau
Titelbild: (c) Bergamo Film Meeting, flickr.com