Foto: Primavera (R: Oriana Leman; CA 2017; 12min)
Wider unsere Sehgewohnheiten
Als Leokino-Besucher ist man ja an und für sich so einiges Experimentelle gewohnt. Man kennt vielleicht Jim Jarmusch in Endlosschleife, die Kurzfilm-Sektion des IFFI oder iranischen Feminismus als knallpinke Animation. Aber das ist bei Weitem nicht der Gipfel.
Für die „Diametrale“, die erste Ausgabe von Österreichs erstem Experimentalfilmfestival, wurden aus einem Pool von mehreren 100 Filmen solche ausgewählt, die sogar für Experimentalfilme ziemlich experimentell sind. Das muss man sich erst mal trauen. Zum Glück gibt es in Innsbruck so viele Filmnarren, dass sich ein ganzer Kinosaal und anschließend die p.m.k. damit füllen lässt.
Was ist nun ein experimenteller Film unter den Experimentellen? Jedenfalls wird er unseren Seh- und Verstehensgewohnheiten ziemlich diametral entgegen gesetzt sein.
Wir reden von rätselhaften Episoden in düsteren Winterlandschaften und solchen, die wie ein einziger LSD-Trip anmuten. Wir reden von Köpfen, die aus Tischen wachsen und solchen, die kahl rasiert werden. Daneben kommt auch eine ganz Menge Instant-Kartoffelpüree vor. Und das alles ohne ein gesprochenes Wort. Ist das der reine Dadaismmus?, frage ich mich stellenweise. Ein lustiges Spiel für Klugscheißer, die dann so tun, als könnten sie noch etwas herauslesen?
Raben, Eulen,… – haben wir alle einen Vogel?
Das mit dem Herauslesen muss man bleiben lassen. Sich einfach in die gemütlichen Leokino-Sessel zurücklehnen und genießen. Wenn man einmal jenseits des Verstehens ist, kann auch Absurdität etwas sehr Schönes sein. Die fehlenden Dialoge erinnern nämlich an etwas, das wir immer gerne vergessen: Film ist kein Sprach-, sondern ein Bildmedium. Und der Experimentalfilm lebt von großartigen, schrägen und vieldeutigen Bildern.
Was dabei deutlich wird: Auch wenn wir alles dekonstruieren, alle Denkgewohnheiten aufbrechen, gibt es Dinge, die übrig bleiben. Die Natur, die wunderbar, aber auch bedrohlich sein kann. Unsere unbewussten Regungen, von denen uns viele – auch außerhalb des Kinos – sehr absurd vorkommen müssen. Und die Liebe.
So funktioniert der allererste Film – eine französische Produktion mit Namen „Le Chant des Corbeaux“, und nein, die Raben singen nicht – völlig ohne nachvollziehbaren Kontext. Man weiß buchstäblich nicht, worum es geht, aber möchte eine finstere Bedrohung erahnen, der die Protagonisten – Mann und Frau auf einem Motorrad – zu entkommen versuchen. Die Raben kommen auch im alten Résistance-Lied Le chant des partisans vor. Auf der Flucht sind immer die Guten. Da wären wir wieder beim Herauslesen. Unnötig zu sagen, dass der im alpinen Niemandsland gedrehte Film mit seinen Schwarzweiß-Bildern emotional heftig einfährt. Und das ohne dass man genau sagen kann, warum.
Auch „Das Glück der Lücke“ vom Filmemacher und Diametrale-Organisator Marco Friedrich Trenkwalder fährt ein. Ästhetisch das genaue Gegenteil von den Raben – bunt und upgefuckt, voller menschengroßer Eulen und wilder Träume – erzählt der Film davon, was passiert, wenn im Unbewussten Eros und Thanatos Tarotkarten legen. Natürlich kann nur ein einziges Chaos dabei herauskommen. Aber so ist nun mal das Leben, und die Liebe sowieso. In solch abgedrehten Bildern macht das Ganze halt auch Spaß.
„The Cove“ erzählt dagegen von den ganz banalen Gewohnheiten des Alltags. Im Lichte des Experimentalfilms werden die natürlich auch reichlich absurd. Der entfremdete Blick lässt einen blutenden Fuß und haufenweise Kartoffelpüree-Pulver komisch aussehen. Aber man ertappt sich selbst im Alltag ja auch bei so einigen Absurditäten. Haben wir also alle einen Vogel? Ja, ohne Zweifel.
Wenn schon alle still sind, dann wenigstens Musik!
Der große Vorteil von fehlenden Dialoge: Die Filmmusik tritt viel mehr in den Vordergrund. Und das zu Recht, besonders bei Rabe & Eule.
„Untitled [Statische Exposition]“ spielt noch mit den Möglichkeiten, Film und Musik auf ganz neuartige Weise zu verknüpfen, und was ein wiederkehrendes Motiv im Ton ist, ist ein verdrei- oder -vierfachtes Element im Bild. Nachher ist man reichlich wirr im Kopf. Aber auf die gute Art.
Der zweite Teil der Diametrale ist dann, nebst einigen Kurzfilmen, vorwiegend der Musik gewidmet. In der p.m.k. wird aufgelegt: Zwar ganz schön wild, aber nicht so experimentell wie das filmische Programm – dafür aber sehr tanzbar. Bis in die frühen Morgenstunden wird mit raffinierter Electronica unterhalten. Prädikat? „Junglistic“ und „deviant“ der große Istari Lasterfahrer, schlicht „avant“ der Performer Worsel Strauss, psychdelisch-diskommunistisch die durchaus witzigen „Clastah“, die mit der Revolution gar nicht mehr aufhören wollen. Wie man sich hinterher fühlt? Gar nicht dekonstruiert. Eigentlich sehr zufrieden.
Fazit
Wenn Kunst uns dazu bewegen soll, die Welt hin und wieder ein wenig neu zu sehen – was soll man dann zu Experimentalfilmen sagen, was mit ihnen anfangen? Täten wir gut daran, uns mehr und mehr an der Schrägheit und Absurdität der Welt zu freuen? Das wäre schon ein ganz hübscher Effekt.
Aber Experimentalfilme sind auch Filme, die über Filme nachdenken. In der ihre Gemachtheit sichtbar wird. Die uns deshalb auch mit uns selbst konfrontieren: Wieso wollen wir, dass immer alles einen Sinn hat? Der Film, das Leben? Da kommt man schon ins Grübeln. Die nächste Gelegenheit dazu? Spätestens die Diametrale 2018. Manche Experimente sind gut genug, dass sie sich etablieren sollten.