Das Adrenalin jagte bereits durch seine Adern, als sein Atem wieder einsetzte. Der Knall war in dem kleinen Kühlraum, in dem Bruno die Tiere auseinander nahm, so verstärkt worden, dass er zusammenzuckte und vor Schreck die meisten seiner Körperfunktionen einen Moment lang aussetzten. Sein Herz raste nun wie wild und drohte fast aus seiner Brust zu springen. Nachdem er langsam wieder zu sich kam und Orientierung fand, legte er das Fleischer Beil zur Seite, schnürte die weiße Schürze auf und ging in Richtung Verkaufsraum. Langsam öffnete er die Türe und spähte nach draußen.
Bruno war einer der bekanntesten und beliebtesten Metzger in der ganzen Umgebung. Von weither kamen Leute, um bei ihm einzukaufen. Er war bekannt für seine Liebe zum Produkt, seine Leidenschaft für gutes Essen. Für seine Fähigkeiten als Fleischer, seine Präzision und Geschwindigkeit. Bruno liebte seine Aufgabe, liebte seinen Beruf. Er hatte nie Probleme damit gehabt ein Schwein zu töten und es auseinander zu nehmen. Das war sein Alltag, von klein auf. Es hatte in seinem Leben viel Blut gesehen, totes Fleisch, rohes Fleisch. Doch was er nun zu sehen bekam, ließ selbst in ihm die Übelkeit aufsteigen und trieb ihm die Gallenflüssigkeit in den Mund.
Für einen Moment musste er wegschauen, die Augen schließen. Was er eben vor sich gesehen hatte, konnte er nicht fassen, nicht glauben. So etwas konnte nicht real sein. So etwas passiert nicht. Zumindest nicht in diesem, in seinem, in ihrem kleinen, beschaulichen und so friedlichen Dorf. So etwas passiert im Fernsehen oder vielleicht im weit entfernten Neapel oder in Rom, aber sicher nicht hier. Als er die Augen wieder öffnete, brannten sich die Bilder in seinen Kopf ein. Für die Ewigkeit. Nächtelang. Tagelang würde er diese Bilder vor seinem inneren Auge haben. Keine Sekunde würden sie weggehen, keine Sekunde ihn in Ruhe lassen.
Der Schweiß stand auf seiner Stirn. Sein Gesicht war kreidebleich. Er konnte sich nicht bewegen. Keinen Zentimeter. Dass draußen die Sirene anging und ohrenbetäubend schrillte, nahm er gar nicht wahr. Vor ihm lagen hunderte, tausende von Glasscherben. Das große Schaufenster war durch den Aufprall zersplittert. Der regungslose Körper lag, wie ein U-Hacken gekrümmt, halb draußen, halb innen. Die Beine hingen aus dem Schaufenster, der Oberkörper im Verkaufsraum. Die Wirbelsäule war mehrfach gebrochen.
Die Hände des Mannes waren zur Seite gefallen. Es sah aus, als hätte jemand eine Jesus-Statue vom Kreuz genommen und durch das Fenster geworfen. Der Mund des Mannes stand offen, die Augen waren weit aufgerissen. Das dunkelblaue Hemd war bis zum Bauchnabel geöffnet. Aus der klaffenden Wunde, in der Brust des Mannes, floss ein rotes Rinnsal. Erst den Hals hinab. Dann über das Gesicht des Mannes. Es bildete am Boden eine immer größer werdende Lache, in der der Kopf lag. Der Kopf eines gutes Freundes. Der Kopf des besten Freundes von Bruno. Der Kopf des örtlichen Polizeichefs.
Foto: by Stefanie Aigner
Zu den vorhergehenden Kapiteln:
Kapitel 1: Jeder Tag ein Neuanfang
Kapitel2: Risse an der Oberfläche