Kollektives Entsetzen vor Brunos Geschäft. Niemand konnte so richtig glauben, was sie vor sich sahen. Keiner traute sich näher als drei Meter an den Schauplatz heran. In einem Halbkreis standen sie vor dem Schaufenster. An die zwanzig Leute. Hände über den Köpfen. Eltern die Kindern die Augen verdeckten. Frauen und Männer die sich entsetzt wegdrehten und mit der eigenen Übelkeit kämpften.
Stefano war der erste Polizist der aus dem Wagen stieg. Als er den lauten Knall hörte, hatte er sich gerade an seinen Schreibtisch gesetzt und wollte in aller Ruhe mit dem Papierkram, einem ersten Cappuccino und einem Buttercroissant in den Tag starten. Wenige Sekunden später hatte die alte Dame, die gegenüber von Brunos Metzgerei wohnte und die immer von ihrem Küchenfenster aus die Menschen auf der Straße beobachte, in der Polizeistelle angerufen. Mit zitternder Stimme hatte sie ihm erklärt, dass er sofort kommen müsse. Nicht nur er. Die ganze Polizei. Etwas Schlimmes sei passiert. Bei Bruno. Vor Bruno. Vor Brunos Geschäft. In Brunos Geschäft.
Er hatte die Alte erst gar nicht richtig verstanden. Normalerweise hätte er sie freundlich aber bestimmt abgewimmelt. Wer den ganzen Tag fremde Leute beobachtet und selbst nur selten das Haus verließ, sah so manches Gespenst. Doch der laute Knall und der Anruf, nur wenige Sekunden später, hatten ihn umdenken lassen. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass wirklich etwas passiert sei. Etwas Schlimmes. Er war zwar noch keine fünf Jahre als Polizist im Einsatz, doch auf sein Bauchgefühl konnte er sich immer verlassen.
Keine fünf Minuten hatten sie gebraucht. Sie waren zu viert die Tagesdienst hatten. Nun standen sie gemeinsam vor Brunos Geschäft und hatten alle Hände voll zu tun, die Menschentraube aufzulösen, um den Tatort sichern zu können. Maria hatte schon das weiß-rote Plastikband aus dem Kofferraum geholt und begann großflächig vor dem Schaufenster abzusperren. Maurizio war sofort zu dem regungslosen Körper, der komplett verdreht und unwirklich im Schaufenster hing, gegangen. Als Stefano zu ihm hinüber sah, lief es ihm kalt über den Rücken. Maurizio war hart im Nehmen, ein erfahrener Polizist, der früher weit im Süden für die Carabinieri und die DIA gearbeitet und so manches Entsetzliche gesehen hatte.
Doch nun war alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen. Panik. Angst. Verzweiflung und Entsetzen konnte Stefano in seinen Augen sehen. Maurizio schüttelte ungläubig die Stirn und winkte Stefano zu sich herüber. Der war allerdings zu sehr damit beschäftigt, den anwesenden Passanten zu erklären, dass es hier nichts zu sehen gäbe, es sich um einen Tatort handle und sie nun weitergehen sollen. Morde gehörten eigentlich nicht zum Tagesgeschäft der örtlichen Polizei. Bei Verbrechen dieses Ausmaßes, mussten andere Behörden eingeschaltet werden. Dementsprechend überfordert waren Stefano und seine Leute.
Stefano hatte gerade eine Gruppe amerikanischer Touristen dazu bewegt zumindest bis hinter die Absperrung zu gehen, als von der gegenüberliegenden Straßenseite eine Stimme zu hören war: „Mio dio. Mio dio. Sie sind wieder da. Sie sind wieder zurückgekehrt. Es wird alles wahr. Mio dio!“ Köpfe drehten sich. Die Menschen starrten nun alle nach hinten. Stefano sah die Alte, die ihn vor wenigen Minuten angerufen und zum Tatort geholt hatte, auf ihrem Balkon stehen, den sie schon Jahre lang nicht mehr betreten hatte. Sie schlug die Hände über ihren Kopf zusammen. Immer wieder rief sie: „Sie sind wieder zurück. Sie sind wieder zurückgekehrt.“ Stefano wusste nicht, wovon sie sprach. Aber sein Bauchgefühl verhieß – nichts Gutes.
Foto: by Stefanie Aigner
Zu den vorhergehenden Kapiteln:
Kapitel 1: Jeder Tag ein Neuanfang
Kapitel 2: Risse an der Oberfläche
Kapitel 3: Bilder für die Ewigkeit