Ich war damals gerade mit meinem Musikstudium fertig geworden und schon einige Monate auf der Suche nach einer anständigen Arbeit. Wenig erfolgreich. Meine Freundin wusste schon gar nicht mehr, wie sie mich aufmuntern sollte. Dabei hatte sie selbst gerade eine schwere Zeit. Ein neuer Chef auf der Station und ihr Vater schwer krank, dem Tod näher als dem Leben. Die eigene Mutter mit der Situation überfordert. Meine Freundin ist so ein Mensch, die in Krisenzeiten besser funktioniert. Wie ein Reh, das die drohende Gefahr wittert. Während andere gegen ihr Selbstmitleid kaum eine Chance haben, laut trauern oder sich fallen lassen, bleibt sie nüchtern und stets zielorientiert. Sie geht bestimmt voran, denk mit, organisiert, tröstet, erklärt und schenkt Hoffnung.
Das hat sie damals auch für mich getan. Ich war mir absolut sicher, niemals würde ich eine Stelle finden. Niemand würde einen 32-jährigen, spät berufenen Pianisten suchen. Richtig Geld konnte man nur auf den ganz großen Bühnen verdienen, bei den großen Produktionen. Doch wer diese Bühnen erklimmen will, der braucht nicht das größte Talent, sondern Ehrgeiz und Fleiß. Mir fehlt beides. „Nichts macht fauler, träger als das Talent, das in einem schlummert“, hat mal jemand gesagt. Ich glaube es war mein Vater. Früher hätten diese Worte mich zum Vulkan gemacht, mir die Zornesröte ins Gesicht getrieben und mich schimpfen lassen. Ich hätte gekontert und irgendetwas erzählt von wegen – Künstler seien sowieso unverstanden, bis sie irgendwann tot sind. Vielleicht sollte ich diesen Prozess ja beschleunigen. Heute ist das anders. Talent ist tatsächlich die verlässlichste Bremse die es gibt. Sie wirkt – ohne, dass man es groß merkt. Still und heimlich im Hintergrund. Erst kurz bevor alles zum Stehen kommt, realisiert man, was geschehen ist. Den Karren dann wieder zum Laufen zu bringen ist ein verdammter Kraftakt und nahezu unmöglich. Mir haben sie immer großes, schier grenzenloses Talent attestiert. Umso kürzer war mein Bremsweg und umso heftiger der Aufprall. Ich musste erst alles hinschmeißen, flüchten, weit weg, um zurückzukommen und mit Ende 20 mein Studium doch noch zu beginnen.
In China gibt es ein Sprichwort: Neben der edlen Kunst, Dinge zu verrichten, gibt es die edle Kunst, Dinge unverrichtet zu lassen. Ich war ein Meister dieser Kunst. Und ich musste tief im Dschungel stehen, um das zu verstehen. Als die Erkenntnis kam, wäre es fast zu spät gewesen. Fünf Jahre später hatte ich, dank meines Talents, nicht dank meines Fleißes, mein Studium beendet. Danach wartete die Realität, das richtige Leben. Ein Job musste her. Doch er wollte nicht kommen. Niemand sucht heutzutage noch Leute mit Talent. Fleißige Leute sind es, die gebraucht werden. Fleißige, stille Arbeiter, sondern funktionieren. Pünktlich und verlässlich. Als ich vom gefühlt zweihundertsten Bewerbungsgespräch, mit Absage im Gepäck, nach Hause fuhr, war es das Schicksal, das mich trieb. Bevor ich nach Hause ging, wollte ich noch in die Bar. Nur ein Schluck Trost. Beim vierten Schluck, kam der Wirt zu mir rüber und erinnerte mich daran, dass es erst kurz nach Mittag war und gleich die Schulkinder nach Hause gehen würden. Ich solle doch an die kleinen, unschuldigen Kinder denken, denen ich diesen Anblick besser ersparen sollte. Erst wollte ich antworten, doch dann nickte ich still, stützte meinen Kopf mit den Armen und blickte zu Boden. Dort lag ein kleiner Zettel. Leicht zerknittert, so als hätte ihn jemand gelesen, zusammengeknüllt und zu Boden geworfen. Ich weiß nicht mehr was es war, aber der Zettel hatte etwas an sich, das mich ihn hochheben ließ. Bar-Pianist gesucht. Vier Abende die Woche. Gute Bezahlung. Eine Nummer und eine Aufforderung. Ich kannte die Bar. Ich raffte mich auf, zahlte und wählte die Nummer.
Das ist nun vier Jahre her. Seit dem habe ich keinen Urlaub gemacht. An vier Abenden in der Woche verlasse ich die Wohnung pünktlich um halb sechs Uhr abends. Ich gebe meine Freundin immer einen Abschiedskuss und murmle, „bis morgen.“ Sie wird schon schlafen, wenn ich nach Hause komme. Ich bin ein guter Pianist und ein guter Angestellter. Wenn ich spiele, bleiben die Leute lange und sie trinken viel. Vor drei Uhr früh enden die Nächte selten. Auch wenn es nicht die große Bühne ist, von der ich geträumt habe, so ist es immerhin meine Bühne. Die Leute schätzen mich. Sie kommen zu mir rüber, auf das kleine Podest, wo mein altes, schwarz-braunes Klavier steht. Sie legen regelmäßig den Arm um mich und flüstern mir nette Dinge ins Ohr: „Du bist der Beste der hier je gespielt hat. Du bist einer für die ganz große Bühne. Schade, dass sie im Fernsehen immer nur Sänger suchen. Deine Chance kommt aber bestimmt. Und hey, kennst du das Lied. Das eine? Kennste das? Kannst du das mal für uns spielen?“ Natürlich kenne ich das Lied. Jeden Abend wünscht es sich jemand. Früher hätte ich mich geweigert, Bestellungen aufzunehmen. Ich bin kein Kellner, sondern Künstler. Heute sehe ich das anders. Ich bin ein Unterhalter. Mein Job ist es, die Menschen glücklich zu machen. Deshalb spiele ich. Ich habe einen guten Job und er macht mir Freude. Das ist doch etwas mit dem man zufrieden sein kann. Das hat nicht jeder.
Gestern war ein guter Abend. Die Leute haben viel getrunken. Und sie waren glücklich. Bis auf die eine Alte. Die saß den ganzen Abend im Eck, gegenüber von meinem Klavier und sie hat mich angestarrt. Von Anfang an hatte ich ein komisches Gefühl. Ich habe sie vorher noch nie hier gesehen. Die Frau musste 80 sein, oder älter. Wer geht in diesem Alter abends alleine aus dem Haus? Normalerweise liegen alte Leute um diese Uhrzeit doch schon im Bett und lesen ein Buch, nachdem sie einen Teller Hühnersuppe gegessen und den Hund gefüttert haben. Zumindest stelle ich mir das so vor. Die Alte war den ganzen Abend da. Sie ging kurz vor Schluss, als nur noch die Stammgäste an der Bar saßen und unter lautem Protest die letzte Runde bestellten. Den ganzen Abend hatte sie nur ein Glas getrunken. Calvados. Wer bestellt sich sowas? Ihre weißen Haare leuchteten aufdringlich. Nach jedem Stück musste ich zu ihr rüber sehen. Lächelte sie? Oder sind das nur nervöse Zuckungen alter Muskeln die schon müde sind und eigentlich längst im Bett sein sollten?
Heute ist es kalt. Bitterkalt. Ein typischer Abend, Ende November. Es ist bereits dunkel und der Schnee fliegt einem waagrecht ins Gesicht. Der Weihnachtsmarkt hat bereits eröffnet. In der Luft liegt diese selige, süßliche Mischung aus Zimt, Vanille und Punsch. Ich bin auf dem Weg in die Arbeit und das komische Gefühl, will mich einfach nicht loslassen. Ob die alte Dame heute wieder da sein wird? Wenn ja – und da bin ich mir sicher – werde ich sie ansprechen.
Hier kommst du zum zweiten Teil der „Weihnachtsgeschichte 2015“.
Eine Weihnachtsgeschichte
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