Wenn man gut schreiben kann und sich gerne selbst liest, ist die einzige Herausforderung oft das Auffinden eines geeigneten Sujets. „Warum nicht in der Tagespolitik wildern?“, fragt sich der mehr oder minder idealistische Schreiberling deshalb naheliegenderweise. Und welches Thema würde sich im Moment besser anbieten als die völlig zerredete Flüchtlingskrise? Es ist mit Sicherheit noch nicht alles dazu gesagt!
Köhlmeier: neuer Roman mit veralteten Motiven
Das findet auch Michael Köhlmeier und bringt deshalb kurz vor Weihnachten, wo wir uns alle noch ein bisschen sozialer fühlen als ohnehin üblich, einen Vorabauszug aus seinem neuen Flüchtlingsroman „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ – man beachte die unverhohlene Poesie im Titel! – in der Samstagsbeilage des STANDARD unter. Inzwischen ist der Bestseller in spe bei Hanser erschienen, auf dem Umschlag das melancholisch anmutende Porträt der Protagonistin. Ja, welche Metapher würde sich besser für die Ausschlachtung dieser Krise der Menschlichkeit eignen als die des Kindes, spätestens seit Rousseau die letzte Bastion der Unschuld in einer völlig verkommenen Welt? In kurzen, einfachen Sätzen – man will ja dem geschätzten Sujet auch stilistisch gerecht werden – schildert unser aller Maître vom Bodensee, wie es wohl einem völlig einsamen Flüchtlingsmädchen in der mitteleuropäischen Fremde geht, und man fragt sich, wie er das so genau wissen kann. Kinder als Protagonisten sind in der Literatur fast immer problematisch, weil sie für gewöhnlich im Dienste der Komplexitätsreduktion stehen – bei Kindern muss man nicht lange überlegen, Kinder sind unverdorben und schlicht, schutzbedürftig und apolitisch, und in jedem Fall sind sie die besseren Menschen. Das Umschlagbild mag neu sein, aber das Bild vom Kind als unbeteiligtem Opfer der Weltpolitik ist allmählich verbraucht. Natürlich hat man als Schriftsteller zu Beginn des 21. Jahrhunderts das ganz grundsätzliche Problem, dass zu den meisten großen Themen der Menschheit schon reichlich geschrieben wurde, und das wohl in den meisten Fällen von Begabteren als man selbst ist.
Bertolt Brecht und die praktische Umsetzung
Das Literaturhaus am Inn greift deshalb auf Bewährtes zurück und veranstaltet im Rahmen der neuen Veranstaltungsreihe „V-Effekt“ eine szenische Lesung von Bertolt Brechts „Flüchtlingsgesprächen“, sehr gekonnt und angemessen postdramatisch dargeboten von Helmuth A. Häusler und Hannes Perkmann.Es ist eine Veranstaltung, die für sich steht, aber auch eine, die, so heißt es im Schlusswort, durchaus als „politisches Statement“ verstanden werden darf. Die politische Analogie indes hinkt ein wenig – die „Flüchtlingsgespräche“ entstanden in den frühen 40ern im Exil, der politische Flüchtling Brecht rechnete gleichermaßen mit Faschismus und Kapitalismus ab; das allerdings zu einer Zeit, als Europa zu sehr damit beschäftigt war, sich selbst zu zerfleischen, als über die Situation der deutschen Exilanten nachdenken zu können oder zu wollen, in der also tatsächlich noch bei weitem nicht alles gesagt war. Moralistisch kennt man auch Brecht, und hier ist er es ganz besonders, allerdings in unnachahmlicher literarischer Qualität. Die „Flüchtlingsgespräche“ sind eigentlich eine Aphorismensammlung in Dialogform und enthalten allerhand Glanzstücke im Stil von: „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Art zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“ Das hat dann aber trotz autobiographischen Hintergrunds und einer grundsätzlich anderen geopolitischen Konstellation doch eine gewisse zeitlose Ästhetik.Das schöne Lehrstück endet dann mit einem umso weniger zeitlosen Plädoyer für den Sozialismus, und natürlich ist die Ideologie bei Brecht niemals wegzudenken. Ist es da nicht beinahe harmlos, wenn Michael Köhlmeier eifrig eine Petition gegen die Flüchtlingsobergrenze unterzeichnet?
Wer einfache Lösungen für höchst komplexe realpolitische Probleme kennt, muss sich aber aus diesem Grund noch lange nicht zu literarischen Ergüssen berufen fühlen – das, so ist die Philosophin in mir versucht zu sagen, sind unterschiedliche Sprachspiele. Wer glaubt, in einer völlig unübersichtlichen, ethisch mehr als ambivalenten Situation richtig und falsch so klar voneinander unterscheiden zu können, sollte – Anwesende nicht angenommen – erstmal die Ärmel hochkrempeln und sich an die Arbeit machen, bevor unsere überforderten und vor allem schlecht organisierten Sozialstaaten unter der Last einbrechen (wobei sich natürlich die Frage stellt, ob Genosse Brecht mit der praktischen Umsetzung nicht auch seine Schwierigkeiten hatte). Vor allem aber sollte er sich auch fragen, ob es nicht so etwas wie eine Ethik der Ästhetik gibt, und ob wir der Literatur, die heute meiner Ansicht nach vor allem die Aufgabe hat, Komplexität zu thematisieren und nicht zu reduzieren, etwas Gutes tun, wenn wir sie politisch oder gar moralistisch instrumentalisieren. Das bedeutet überhaupt nicht, dass Kunst apolitisch oder amoralisch sein muss – vielleicht ist sie sogar eine der wenigen Ausweichmöglichkeiten für diejenigen, die ihre Partizipationsrechte noch anders als in Form des in (legislatur-)periodischen Abständen hinzumalenden Kreuzchens wahrnehmen möchten. Aber ernst nehmen kann man sie, wie ich meine, nur dann, wenn sie auch einmal den Anstand hat zu schweigen.
Ein Jurist wird zum Literaten: Daniel Zipfel
Das heißt aber nicht, dass ich allen idealistischen Schreiberlingen die Behandlung von politisch brisanten Themen apodiktisch untersagen möchte. Es gibt Gegenbeispiele – und, mirabile dictu, es gibt sie sogar in Österreich. Eines davon heißt Daniel Zipfel, ist hauptberuflich Asyljurist und hat seinen Debütroman „Eine Handvoll Rosinen“, der kürzlich im Treibhaus vorgestellt wurde, veröffentlicht, bevor
das (ja durchaus nicht neue) Flüchtlingsthema überhaupt feuilletontauglich wurde. Zunächst einmal ist man geneigt jemandem, der die Problematik aus erster Hand kennt, etwas mehr Expertise und damit auch eine gewisse Berechtigung zuzusprechen, sich zum Thema zu äußern. Ob das allerdings in literarischer Form sein muss?
Nein, es muss nicht, und Daniel Zipfels Roman ist auch nicht einer von denen, „die man gelesen haben muss“. Aber er hat heute vielleicht doch eine gewisse Berechtigung, weil er neben allem anderen auch ein klein wenig Parabel auf die Aporien der Rechtsstaatlichkeit sein möchte und seinen literarischen Wert nicht ausschließlich daraus zieht, „brandaktuell“ zu sein. Natürlich geht es grundsätzlich um die Flüchtlingsproblematik, aber das mit dem Anspruch, unterschiedlichen Perspektiven Raum zu geben; nur eine nimmt Daniel Zipfel dezidiert nicht ein, und das ist die des Flüchtlings – aus Respekt, wie er im Rahmen der Lesung im Treibhaus meint. Der Roman spielt nicht heute, sondern zur letzten großen Asylkrise 2003/4, kurz vor der Einführung der Mindestsicherung für Flüchtlinge. Hauptfigur ist ein nicht ganz greifbarer Fremdenpolizist in Traiskirchen, der zunehmend unter der Diskrepanz zwischen seinen ethischen Ansprüchen und dem, was Gesetze vermögen, zu leiden beginnt. Eine wichtige Nebenrolle als zweiter personaler Erzähler hat der Schlepper Nejat, der sich seinerseits den Gesetzen des illegalen Marktes unterwirft, ohne die ethische Dimension seines Business, das so basarähnlich funktioniert, dass die titelgebenden Rosinen in schwindligen Istanbuler Spelunken wie Spielfiguren als Symbol für die zu transportierenden Flüchtlinge verwendet werden, völlig ausblenden zu können.
Stilistisch kann Daniel Zipfel den Juristen in sich nicht ganz verbergen, er schreibt nüchtern und mit viel Liebe zum Detail, und das ist wohl auch genau das, was das Thema braucht. Trotzdem schreibt er nicht als Jurist – das Handeln, die Beteiligung, die Arbeit sind eine Sache, die Problematisierung eine andere. Der Fremdenpolizist Ludwig Blum, dessen Ordnungskonzept irgendwann nicht mehr greift, versucht irgendwann einen afghanischen Flüchtling vor der Abschiebung und damit sein Weltbild vor der völligen Inkonsistenz zu bewahren; das ist ebenso verständlich wie prekär, ebenso menschlich wie egozentrisch. Es sagt uns nicht, was in dieser speziellen und jeder beliebigen vergleichbaren Situation das ethisch Richtige ist.
Die Literatur darf auch einmal still sein
Man könnte sich also fragen, ob eine sachliche, differenzierte und vor allem bescheidene literarische Auseinandersetzung auch in der aktuellen Situation vielleicht doch kein ganz unberechtigtes Sprachspiel ist. Allerdings müssen wir dann das, was Literatur kann, klar von dem trennen, was sie nicht kann. Sie kann nicht Wirklichkeit abbilden. Sie kann uns auch keine angemessenen politischen Ansichten eingeben. Und sie kann ganz sicher keine Antworten liefern. Sie kann uns aber vielleicht helfen, gute Fragen zu stellen und unser ganz persönliches Verhältnis zu der Welt, in der wir leben, zu überdenken. Und wenn ihr das alles schwer fällt, kann sie immer noch schweigen.
Titelbild (c) Bőr Benedek photo, IMG_6213, flickr.com