Ich kann dich hören, aber ich verstehe dich nicht!

9. März 2016
2 mins read

Über Unklarheiten, Mehrdeutigkeiten, Widersprüche und Grenzen der Sprache.


Ich kann dich hören.
Ich kann sehen, wie sich dein Mund öffnet,
mal langsam, mal schneller.
Ich sehe, wie sich deine Lippen verformen,
wie deine Zunge tanzt, wie ein Kind im Sommerregen.
Ich höre die Laute, die aus den Tiefen deines Kehlkopfes strömen,
wie sie mal leiser, mal lauter Worte und Sätze bilden.
Du schaust mich an, voller Freude,
deine Augen strahlen, wie die Sterne in einer romantischen Sommernacht.
Du willst mir etwas sagen. Etwas Wichtiges. Etwas ganz Wichtiges.
Aber ich verstehe dich nicht.
Ich kann dich hören.
Ich merke, wie du immer mehr verzweifelst,
wie du versuchst die Mauer zu durchbrechen, mich zu erreichen.
Ich sehe, wie deine Arme wild und hektisch, wie die Segel eines Windrads durch die Lüfte rudern,
wie sie vergeblich versuchen die Wichtigkeit deiner Botschaft zu unterstreichen.
Deine Stimme wird lauter. Sie überschlägt sich. Du wirst nervös.
Ich beobachte die Schweißperlen auf deiner Stirn,
wie sie in der Sonne glänzen, wie kleine, klare Bergseen in einsamer Höhe.
Du merkst, dass ich dich nicht verstehe. Dass deine Botschaft nicht ankommt.
Du bist enttäuscht. Ich gebe mir Mühe. Wirklich.
Aber ich verstehe dich einfach nicht.
Ich kann dich hören.
Ich nehme alles wahr was du sagst. Wort für Wort. Satz für Satz.
Und doch verstehe ich nichts von alledem. Absolut nichts. Nada.
Was willst du mir bloß sagen? Was ist nur so wichtig?
Ich bin verzweifelt, werde unruhig. Ungeduldig. Bin genervt.
Ich will aufgeben, flüchten, so weit rennen, wie meine Füße mich tragen.
Ich muss weg von hier. Ich will dich hier stehen lassen, mitsamt deinen blöden Worten.
Ich kann dich doch hören. Ich höre dir doch zu. Oder?
In dem Moment wird es mir plötzlich klar. Aber natürlich!
Ich kann dich zwar hören, aber ich höre dir nicht zu.
Deshalb verstehe ich dich nicht.
Ich höre dir also zu.
Ich schenke dir meine ganze Aufmerksamkeit.
Sofort spüre ich die Begeisterung, die du empfindest,
wie du voller Freude deine Botschaft mit mir teilst.
Ich höre, wie du lachst, laut, herzlich,
wie dein Herz aufgeht, wie eine Tulpe im holländischen Frühling.
Du merkst, dass deine Botschaft ankommt. Endlich!
Auch meine Anspannung löst sich allmählich, ich atme tief durch.
Ich spüre, wie ich die Informationen aufsauge,
wie ich voller Neugierde nachfrage, wie ein wissbegieriges Kind am ersten Schultag.
Plötzlich verstehe ich dich und du verstehst mich.
Sprache ist nicht einfach, Sprache ist komplex.
Sie ist tückisch und hinterhältig.
Sie ist gemein, so wie der Bösewicht in Filmen.
Sprache ist überall, sie lauert hinter jeder Ecke,
wie ein Handtaschendieb in den dunklen Gassen Roms.
Man entkommt ihr nicht. Keiner hat das je geschafft.
Wir sind ihr ausgeliefert. Tag für Tag.
Dabei ist uns oft gar nicht bewusst,
was Sprache mit uns macht, wie sie uns manipuliert.
Ja. Wir können uns hören.
Aber wir verstehen uns nicht,
solange wir nicht zuhören.


 Artikelbild (c) David Dodge, "The Mac Innon girls-- Twins", flickr.com

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