Der gefeierte Lyriker Aleš Šteger stellte vor kurzem seinen ersten Roman „Archiv der toten Seelen“ im Literaturhaus am Inn vor. Die schändlich schlecht besuchte Lesung (wo seid ihr, Literaturliebhaber Innsbrucks?) bot, obwohl sehr dicht und außerdem anspruchsvoll moderiert von Joe Rabl, einen nur begrenzt anschaulichen Einstieg in die komplexen Verwicklungen, die den Roman ausmachen. Die sind nämlich mehr als verworren und werden vor allem von vielen grotesken Charakteren getragen, die sich in Hinterzimmern oder Katakomben herumtreiben, aus Kanälen gekrochen kommen oder in Hügeln leben.
Mikado und Marx, der Iltis – eine Groteske…
Es gibt zwar zwei Hauptpersonen, die auf streng geheimer Mission nach Slowenien kommen, um eine dubiose Geheimgesellschaft (den „Großen Ork“) zu zerschlagen, aber die eigentliche Protagonistin ist die ehemalige k.u.k. Stadt Maribor, die, nur 60 km von Graz gelegen, 2012 europäische Kulturhauptstadt war. Trotzdem will sie, als eine der bedeutendsten Industriestädte des ehemaligen Jugoslawien, die unfähig ist, die Geister der unmittelbaren sozialistischen Vergangenheit, aber auch viel ältere Erinnerungen irgendwie zu verarbeiten oder loszuwerden, nicht so recht zum fortschrittsaffinen Optimismus der EU passen. Der ist aber, so viel wird deutlich, nicht die Lösung des Problems, sondern vielmehr selbst Teil davon (beispielhaft ist die Szene, in der sich zwei steife EU-Repräsentantinnen über den fehlenden Swimming Pool im 4-Sterne-Hotel beklagen).
Denn obwohl der Roman, wie Šteger sagt, in Maribor mit großem Unbehagen gelesen wird, ist er nicht einfach ein weiterer unter vielen anderen National- oder auch nur Aufarbeitungsromanen – man muss Maribor oder auch nur Slowenien nämlich nicht kennen, um sich unangenehm erinnert zu fühlen (ohne vielleicht genau zu wissen, woran).
Das „Archiv der toten Seelen“ ist nämlich in Dramaturgie und Stil vor allem eins, nämlich eine Groteske, und damit befugt, völlig hemmungslos mit Fakten und Illusionen zu spielen – wobei wir davon ausgehen dürfen, dass sich im Roman weitaus mehr Fakten finden, als man auch nur zu befürchten wagt. Grotesk ist die gesamte Situation nämlich über alle Maßen:
Der Großindustrielle, der seine Krainer Wurst voller Stolz als europäische Erfolgsgeschichte bezeichnet (schließlich wird sie demnächst auf dem Mond landen!) ist nicht weniger angesehen als die Friedhofsdirektorin, die höchst erfolgreich Schmucksteine aus kremierten Toten anfertigt und die digitalisierte Erinnerungskultur anpreist. Der Polizeiinspektor Maus ist eine zutiefst politische Gestalt – er züchtete einst biologisch verseuchte Kamikazetauben für das slowenische Verteidigungsministerium – während Maribors Vorzeigekünstler sein Kulturzentrum eigentlich nur nach dem Iltis seiner Frau „Marx“ benennt.
Bürgermeister Voda besetzt eine einflussreiche Verwaltungsstelle nach der anderen mit hübschen jungen Frauen, da damit unwissentlich zu seinen Geliebten werden – dass er einen Schlüssel für jede einzelne ihrer „Dienstwohnungen“ besitzt, merken sie dann erst, wenn es zu spät ist. Dass sie ihm zutiefst gleichgültig sind muss nicht eigens erwähnt werden; umso näher geht ihm der Erfolg seiner korrupten Geschäfte – da fühlt er ein „positives Pulsieren des Herzens“. Wiederum zeigt sich die kollektive Abstumpfung zuallererst auf der sprachlichen Ebene.
Pater Kirilov tritt stellvertretend für den Klerus der Erzdiözese Maribor auf, die mit 1,3 Milliarden Euro verschuldet ist (auch das ist keine Erfindung, sondern hässliche Realität) – als einziger im Geheimbund des „Großen Ork“ sieht er die Notwendigkeit der Vergebung im Sinne der Befreiung von der Vergangenheit; aber er verkriecht sich lieber in einem Kellerloch, fertigt Krippenfiguren aus menschlichen Knochen an und verweigert sich seiner sozialen Rolle. Es gilt wohl, wie Joe Rabl im Literaturhaus meint, für Šteger dasselbe, was auch über Gogol gesagt wurde, nämlich dass er in der Beschreibung der „toten Seelen“ beinharter Realist ist.
Im Zentrum des Romans steht dann natürlich noch der ehemalige Scientologe Adam Bely, der Maribor hasst und nur zurückkehrt, um die toten Seelen mit vergeistigten Suppencroutons (kein Scherz!) von ihrem physischen Gefängnis zu befreien, wodurch die Mitglieder des „Großen Ork“ allesamt in eine beunruhigend tierische Existenz zurückfallen – seine schöne halbkubanische Adlata Rosa Portero zweifelt indes immer wieder zutiefst an der Mission, hilft Bely aber bis zuletzt.
Beide sind schwierige, gebrochene Gestalten, die auf die eine oder andere Art mit der jeweils eigenen Vergangenheit zu kämpfen haben, aber trotzdem fast die einzigen Sympathieträger – abgesehen von dem obdachlosen Poeten, der die einzig annähernd klarsichtige Einschätzung von Sloweniens sozialer und ökonomischer Situation geben kann, sich aber weigert, irgendjemanden seine Lyrik lesen zu lassen.
Die Stadt als reine Kulisse
Den Höhepunkt der kollektiven Selbstinszenierung erreich der Roman mit der von der ganzen Stadt hart erwarteten Bühnenadaptierung von „Krieg und Frieden“ – einer schmerzhaften Verballhornung von Tolstoi und seinen sozialen Anliegen.
Und da tut sich die Frage auf, ob nicht ganz Maribor einfach ein gewaltiges Theater ist, eine karnevaleske Show, in der niemand die eigene Rolle kennt und in der niemand mit Hingabe zu spielen bereit ist – außer vielleicht Mikado, wie der Protagonist Bely einmal bemerkt: „Wer sich als erster rührt, hat verloren. Die haben gute Chancen, dass ihr Leben auf genau diese Art verstreicht.“
Unweigerlich und vielleicht auch unfreiwillig spielt aber trotzdem jeder mit in diesem Schauspiel, so wie auch die Mitglieder des „Großen Ork“ nicht die Fäden in der Hand halten, sondern selbst dem Diktat der „toten Seelen“ unterworfen sind. Niemand kann sich entziehen, und deshalb muss auch der Kulturbeauftragte Aleš Šteger (!) einen kurzen Auftritt haben, nicht als Widerständler, sondern inmitten der Mariborer High Society. Geradezu brillant!
Während eine groteske Szene die andere jagt und das Drama seinen Lauf nimmt, gibt es aber immer wieder sehr stille, langsame Momente mit vielleicht nicht eben schönen, aber doch anrührenden und aufwühlenden Dialogen und Monologen. Der Roman bewegt sich nämlich sehr deutlich zwischen zwei Polen, die im slowenischen Originaltitel schon angedeutet sind: „Odpusti“ bedeutet Vergebung, aber darin enthalten ist auch „pust“, das slowenische Wort für Karneval. In der Geschichte ist der Karneval das Offensichtliche, während das eigentliche Thema, nämlich die Frage nach der Möglichkeit von Vergebung, von einem gesunden Umgang mit der Vergangenheit, der weder Obsession noch Amnestie ist, eher unterschwellig mitläuft.
Das ist keine spezifisch slowenische Frage; es ist noch nicht einmal eine spezifisch europäische Frage. Es ist eine schlicht existenzielle Frage für jede moderne Gesellschaft – oder, wie der Protagonist Bely einmal (wunderschön) sagt: „Es geht nur um die Vergangenheit, um die Wahrheit darüber, woher wir kommen und wer wir sind. Vor allem aber darum, wer wir alles sein könnten und nicht geworden sind, weil wir uns dauernd wie hypnotisiert, eingeengt hinter Abgrenzungen verstecken, die wir uns selbst aufgestellt haben und die in dieser Stadt noch enger, noch undurchdringlicher sind als irgendwo anders in diesem Teil der Welt.“
Maribor ist eine Stadt, die eigentlich keine mehr ist, weil sie ihre ureigenste Funktion nicht mehr erfüllt: Sie ist kein öffentlicher Raum mehr, sondern lediglich Schauplatz der Machenschaften einer gespaltenen, identitätslosen Gesellschaft; es gibt weder Begegnung noch Bewegung; die rein zweckgerichtete Mentalität des überwundenen (?) Sozialismus verbrüdert sich mit einem nicht wenig zweckgerichteten Kapitalismus; politische, soziale, ästhetische und religiöse Positionen bleiben oberflächliche Possen ohne Konsequenzen; Kunst und Kultur werfen sich bereitwillig der Politik an den Hals – das ist in dieser überzeichneten, quasi-satirischen Form (noch) nicht Realität, aber wir wissen doch alle, wovon die Rede ist.
Fazit
Erstaunlicherweise bewahrheitet sich, was Aleš Šteger während seiner Lesung einmal meint: Was oberflächlich betrachtet nach zwei völlig verschiedenen literarischen Ebenen aussieht, nämlich Politgroteske und Lyrik, speist sich bei ihm aus ein- und derselben Quelle, und das macht den Roman tatsächlich so interessant.
Das „Archiv der toten Seelen“ ist nämlich ein politisches Buch, das nicht moralistisch sein will, sondern selbst ohne politische Positionierung bleibt; es ist ein sozialkritisches Buch, das sich nicht mit dem erhobenen Zeigefinger begnügt, sondern vor allem mit großem Entsetzen die Brüchigkeit und Abgründigkeit von modernen Gesellschaften wahrnimmt, die mit ihrer Vergangenheit nicht umzugehen gelernt haben – im Guten wie im Schlechten; es ist ein bitteres Buch, das immer wieder zu heftigem und lautstarkem Lachen bewegt; es ist ein dramatisches, spannungsreiches Buch, das doch ohne jeglichen Zweifel aus der Feder eines Lyrikers stammt; es ist ein kluges Buch – und vor allem: Es ist ein lesenswertes Buch!