Eine Satire
Nur selten blickt die Welt, in inbrünstiger Erwartung der Verleihung des Nobelpreises für Physiologie und Medizin, mit derart großen Augen auf Österreich wie es derzeit der Fall ist. Jüngst ist es einem Wiener Neurologen, der – so verlangt es die Tradition – auf einen äußerst wohlklingenden Nachnamen hört, gelungen, ein seit geraumer Zeit gehäuft auftretendes Krankheitsbild systematisch zu beschreiben und sogleich die entsprechende Heilung zu entdecken. Sie werden es vielleicht schon erraten haben: Es ist die Rede von der Bibliophilie. Was zunächst wie eine milde Form der Obsession anmutet, kann sich, unbehandelterweise, zu etwas auswachsen, das einer massiven Zwangsneurose ähnelt. Dann nämlich, wenn die betroffenen Personen unter Anfällen von heftiger Tachykardie und Dyspnoe zu leiden beginnen, falls sie einmal versehentlich die eigenen vier Wände ohne Buch verlassen haben sollten. Bei in der Regel sofortigem, zwanghaftem Aufsuchen einer Buchhandlung, eines Antiquariats oder einer Bibliothek normalisiert sich der Zustand der Erkrankten beinahe schlagartig. Irritation rief bislang allerdings der Umstand hervor, dass dem durchschnittlichen Bibliophilen jegliche Krankheitseinsicht fehlt.
In der Tat ist er für gewöhnlich der Meinung, der Menschheit mit seinem vollkommen ungerechtfertigten und überzogenen, wenn nicht besessenen Konsum – der Bibliophile zieht den Ausdruck „Genuss“ vor – von allem Druckwerk einen großen Dienst zu erweisen. Doch wie die Formulierung eines bekanntermaßen schwer erkrankten und häufig zu Veranschaulichungszwecken herangezogenen Betroffenen höchst trefflich zum Ausdruck bringen kann – es handelt sich um den Fall Bertolt B., der sich folgendermaßen äußerte: „Hungriger, greif nach dem Buch: es ist eine Waffe!“ – neigt der Bibliophile zu antisozialem und bisweilen gewalttätigem Verhalten. Tatsächlich ist der Anteil von Bücherdiebstahlen unter den Vermögensdelikten im vergangenen Quartal in ganz Mitteleuropa um durchschnittlich 12.7 % gestiegen.
Wie sich herausstellte scheint die Bibliophilie, anders als die klassische Neurose, ansteckend zu sein! Umso größer war die weltweite Erleichterung, als besagtem Wiener Neurologen vor einigen Wochen die vollständige Heilung eines solcherart erkrankten Subjekts gelungen ist. Die betroffene Person legte zu Behandlungsbeginn ein höchst beunruhigendes Sozialverhalten an den Tag: Tatsächlich hatte sie ganze sieben Wochen lang keinerlei Online-Aktivitäten auf Facebook, Instagramm, Twitter oder Elite-Partner zu verzeichnen – ihr letztes Posting enthielt indes: Ein ZITAT! Dem identitätsstiftenden Austausch über soziale Netzwerke zog dieser repräsentative Bibliophile die Gesellschaft von Personen vor, aus deren sterblichen Überresten sich nicht einmal mehr Papier herstellen lässt. Ohne Umschweife von seinem ohnehin eher bescheidenen sozialen Umfeld isoliert, wurde besagtes Subjekt über einen Zeitraum von mehreren Monaten von allem Papiernen ferngehalten, einzig unterbrochen durch kleinere schocktherapeutische Eingriffe, während derer es angehalten war, Teile der eigenen Bibliothek mit einem Flammenwerfer zu vernichten. Je eher der Patient diese Aufgabe mit innerer Gleichmut ausführen kann, desto mehr darf auf vollständige Heilung gehofft werden. „Auch wenn wir in der Behandlung von manischen Personen sonst eher eine gewisse Sensibilität herstellen wollen, hilft bei so schweren Fällen von Bibliophilie nur massive Abstumpfung“, meint der Nobelpreisträger in spe dazu lakonisch. „Das Problem ist das Gedächtnis: Manche Menschen kennen ganze Romane auswendig, und solange diese Synapsen bestehen, ist ein Rückfall leider sehr wahrscheinlich. Wir müssen die Betroffenen völlig umkrempeln und dann neuronal neu programmieren.“ Das zeigt anschaulich eine Szene aus der 24/7-Videoüberwachung, in der der behandelnde Arzt seinem Patienten erstmals unbewaffnet gegenüber zu treten wagt…
Der Arzt öffnet die vierfach gesicherte Tür zur Zelle. Er hält etwas in Händen. Es sind Bücher. Der ehemals Bibliophile zeigt keinerlei Anstalten, sich darauf zu stürzen, aber noch besteht keine Sicherheit. „Wie viele Bücher halte ich hoch?“, fragt der Arzt in einem Tonfall, der jeden klinischen Psychologen vor Neid erblassen ließe. „Vier“, kann sein Patient hervorwürgen. „Und wenn ich Ihnen sage, dass es fünf sind?“, flüstert der Neurologe sanft säuselnd, ähnlich dem Flimmern eines Flachbildfernsehers. „Fünf“, wiederholt der nunmehr geheilte (!) Bibliophile gehorsam, in der ultimativen intellektuellen Heimatlosigkeit zu einem kaum mehr menschlichen Schatten seiner selbst zusammengesunken. Die Lesebrille hängt ihm verbogen vom linken Ohr, in seinen Augen spiegelt sich das sinnentleerte Nichts.
Der Wiener Neurologe nickt zufrieden, jetzt kann er die gute Nachricht auf die Öffentlichkeit loslassen. Diese pustet ob der Erleichterung so heftig aus, als wollte sie die British Library mit einem einzigen Atemzug völlig leer fegen: Bibliophilie ist heilbar! Wir können uns wieder dem wirklich Wesentlichen zuwenden!