Bernhard und Karin essen jeden Abend gemeinsam im Wohnzimmer am großen Tisch. Das machen sie seit sie vor vielen Jahren zusammengezogen sind. Diese dreißig Minuten gehören ihnen allein.
Die Handys liegen draußen am Gang auf dem Schuhregal. Stummgeschaltet. Keine Ablenkung. Nur essen und reden.
Dieses Ritual haben sie auch ihren Kindern beigebracht. Beim Essen kommt die Familie zusammen. Werte sind wichtig.
Die Kinder sind längst ausgezogen, erzählen nicht mehr von ihrem Schulalltag, Liebeskummer oder Fußballtraining.
Bernhard und Karin sitzen trotzdem am hübsch gedeckten Tisch. Zu zweit. Und sie teilen ihr Innenleben miteinander. So wie sie es immer getan haben.
„Hast du gelesen? Der Impfstoff vom Putin hat eine höhere Wirksamkeit als das Zeug von den Briten“, meint Bernhard.
„Du wolltest dich doch nicht impfen lassen“, antwortet Karin.
„Eh. Aber da siehst du, wie sie uns anlügen.“
„Ach Bernhard. Kannst du das nicht endlich lassen? Jeden Abend das Gleiche. Seit fast einem Jahr. Ich kann das nicht mehr hören“, schnaubt Karin verzweifelt.
„Was kann ich denn dafür? Ich bin nicht der Gesundheitsdiktator, der sein Volk verarscht. Aber nicht mit mir. Nein, nein. Herbert und Stefan haben das auch gesagt. Uns können sie das nicht erzählen. Sicher nicht. Die können sich ihre Computerchips schön selbst impfen. Wir machen da nicht mit. Leute wie Mandela oder Darwin sind für uns gestorben. Für unsere Freiheit! Wir sind das Volk. Und wir sagen nein,“ brüllt Bernhard, der sich mittlerweile von seinem Stuhl erhoben hat, lautstark, sodass die Erbsensuppe aus seinem Mund und quer über den Tisch fliegt. „Nein, sagen wir!“
„Tu was du meinst. Ich lass mich jedenfalls impfen. Nächste Woche in der Arbeit“, erklärt Karin, die im örtlichen Krankenhaus als Pflegekraft arbeitet, bestimmt. „Morgen startet das Impfprogramm. Azra und Elif sind die ersten.“
„Na wunderbar. Die Ausländer kommen wieder vor uns dran“, raunt Bernhard und verschluckt sich an der letzten Erbse.
„Früher war das Abendessen mit dir viel schöner, Schatz.“