Kurzgeschichten wuchern wie Kleinlebewesen am liebsten entlang von Brüchen und Ritzen. Wenn in einer glatten Oberfläche leichte Risse auftauchen, kann man als Leser davon ausgehen, dass bald einmal daraus seltsame Geschichten wachsen werden.
Stefan Abermann lässt neun Geschichten aus einer scheinbar intakten Gesellschaftsoberfläche herauskeimen. Sie sind als durchgehende Prosa vorgetragen, daher gibt es kein Inhaltsverzeichnis, weil die einzelnen Episoden ja durch den Erzählfluß ineinander übergehen.
Die Geschichten sind eines Tages einfach da, man kann nicht genau sagen, wann sie notwendig geworden sind, sowie man einen Riss ja auch irgendwann zufällig entdeckt, nach Wochen oder Jahren. Die „Changes“ zeigen den Wechsel eines Zustands, Gemütes oder Lebenssinns, sie können abrupt aufpoppen, oder aber schleichend Spuren setzen, ohne Chance auf klare Eingrenzung.
In den „Sphären“ (7) organisiert sich eine Clique Jugendlicher, um das legendäre Murmele-Spiel der Nachkriegszeit auszuüben als analoge Antwort auf die Gamer-Szene. Die Glaskugeln dienen nur oberflächlich als Spielgerät, in der Hauptsache geht es um deren Besitz, den Tausch und ihre Eroberung durch Kampf. Die Rollen sind festgelegt durch ein in sich abgeschlossenes Wertesystem. Eines Tages taucht ein Unbekannter Junge auf, der sich Ramon nennt. Er ist körperlich eingeschränkt und wird abwertend als „Spasti“ bezeichnet. Dieser Ramon zerstört das bisherige Gesellschaftsspiel, indem er alles gewinnt und am Schluss den Spielplatz mit seinen Kugeln verlässt. Jetzt gilt es für die Jungs zu handeln. Sie besuchen den mysteriösen Spieler zu Hause und dringen in sein Kinderzimmer vor. Dort ist alles voller Murmele-Trophäen. Die am Spielplatz Überrumpelten rauben ihn aus und suchen mit den Glaskugeln das Weite. Aber diese haben mittlerweile jeden Wert verloren, in ihrer Verzweiflung werfen sie alles in den Innenhof, die Kugeln stehen für einen Augenblick in der Luft, ehe sie durch die Schwerkraft zerplatzen.
Diese makabere Geschichte über das Wertesystem heranreifender Jugendlicher ist auch eine wunderschöne Parabel über den Aktienmarkt, ja den Kapitalismus überhaupt. Wenn die Sphäre der Anleger einmal gestört ist, lässt sich das Spiel nicht mehr fortsetzen.
Ein überforderter Firmenerbe ist Opfer eines anderen Spiels, er soll die Firma übernehmen ist aber in ihr gefangen. Wenn die Arbeitsstätte die Welt ist, so muss man die ganze Welt verlassen, um der Firma zu entkommen. Das macht es für die Insassen der Wirtschaftsblasen so schwer, sich daraus zu befreien. In seiner Verzweiflung arbeitet sich der Held durch die Nächte, auf der Suche nach einem flackernden Licht, das es zu reparieren gilt. „Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist das Auftreten“, (41) bemerkt er völlig resigniert und gibt sich der Gefangenschaft hin. Seine letzten Worte: „Bitte lassen sie mich frei!“ (50)
Wenn die Sphären der Erkenntnis nicht scharf getrennt sind, entsteht jene groteske Verbindung aus Kindheit, Unterbewusstsein, Märchen, Spiel und Schlaflosigkeit, worin nichts mehr klar ist. In der Sequenz vom „Nugget“ (52) wird ein Kind mit den Sonnenseiten des Zusammenlebens vertraut gemacht. Einen Menschen zu finden ist wie Gold! (55) Wenn das so ist, müssten überall Nuggets herauskommen, wo Menschen innig zusammentreffen. In einer schlaflosen Nacht setzt sich das erzählende Kind eine Tarnkappe auf und schleicht ins Zimmer der Erwachsenen. Diese haben plötzlich Nuggets zwischen den Beinen und benehmen sich auch sonst wie in einem Gruselmärchen. Die Mutter liegt neben einem Drachen und schürft offensichtlich Gold. So genau kann es der Beobachter nicht sehen, denn sie Kraft der Tarnkappe lässt nach.
Der Abschnitt vom „Seifenmann“ trägt durchaus den Horror eines Stephen King in sich. Jemand in einem älteren Körper sitzend beginnt den Tag und wundert sich, wie lange der Weg vom Befehl des Gehirns bis in die Füße ist, wo Socken übergestreift werden sollen. Als der Held dieses fortgeschrittenen Körper-Wracks sich selbst abscannt, entdeckt er am Bauch Schuppen, verschrumpelte Haut oder Fragmente einer Krankheit. Doch es scheint sich um Seifenschaum zu handeln, der in der Nacht ausgeronnen und verkrustet ist.
In der Trostlosigkeit des Aufwachens, begleitet von Körperdefekten, entsteht leicht Verzweiflung und eine Ungewissheit, ob es nicht doch einen Arzt braucht. Aber die Erinnerung schweift beim Begriff Arzt gleich ab und ruft die kaputte Beziehungsgeschichte auf, die sich wie eine Krankengeschichte liest. Der Mann hat seine Frau kennengelernt, als er von ihr bei der Ausfahrt aus der Tiefgarage überfahren worden ist. „Er lag mir zu Füssen!“ Dieser Satz begleitet das Paar, bis es vor den Füßen des Scheidungsrichters liegt.
Die Seifenspuren bleiben beunruhigend kleben wie eine unguter Ausschlag, nicht alles lässt sich wegwischen, oft hinterlässt die Reinigung mehr Schäden als die vorgebliche Verschmutzung. Das gilt auch in der Psychohygiene.
Die Geschichte vom „Tapetenwechsel“ (89) geht der Unruhe nach, die vor einem Umbau in der Wohnung einsetzt. Warum sollen plötzlich Möbel verstellt und Installationen neu verlegt werden? Das Wort „Durchbruch“ schafft Erleichterung, ein Durchbruch durch die nächstbeste Wand kann auch den eigenen Träumen zu einem solchen verhelfen.
Die den Tirolern nur allzu bekannte und peinliche Episode eines „Tirolerabends“ (148) zeigt das Land in einem erbärmlichen Zustand. Die Touristenhelden von früher sind kaputte Säufer geworden, die sich Schlagwörter einer untergegangenen Gastronomie an den Kopf werfen. Bald einmal spitzt sich alles auf den sinnlosen Namensstreit zu, ob der patriotische Freiheitsheld oder der Hofer vom Wolfi Ambros die stärkere Ansage an die Zeitgeschichte gemacht hat.
Stefan Abermanns Literatur ist das Ergebnis einer sorgfältigen Alltagsvermessung mit feinen Instrumenten. Die Protagonisten ergattern auf Anhieb unser Mitleid, sitzen wir doch alle mit eingeseiftem Leseschaum vor dem Buch und wissen nicht, sollen wir erschrecken, oder selber weitersuchen, nach Rissen für unsere privaten Kurzgeschichten.
Stefan Abermann: Changes. Kurzgeschichten.
Innsbruck: Edition Laurin 2021. 174 Seiten. EUR 20,90. ISBN 978-3-902866-97-4.
Stefan Abermann, geb. 1983 in Innsbruck, lebt in Innsbruck.
TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 2259, geschrieben am 01/03/21